19.09.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Die Jamaika-Koalition wird eine Schnapsidee bleiben.«

Leitartikel
Klammern ans Biedermeier

Die bleierne Zeit
dauert an


Von Reinhard Brockmann
Das Gewürge geht weiter. Statt klarer Verhältnisse gestern Abend Bestürzung und schwere Enttäuschung im bürgerlichen Lager. Nicht nur weil Schröders Zockerei jetzt noch über den 18. September hinausreicht, sondern weil die eigenen Kräfte nicht gereicht haben, Angela Merkel weniger punktete als Edmund Stoiber 2002 und im Laufe der Nacht die SPD noch stärkste Kraft zu werden drohte.
Entschieden zu wenig Stimmen für die CDU: Das war und bleibt das Kernproblem dieser Wahl, und das kann Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise in Deutschland für weitere bleierne Jahre festschreiben.
Merkel hat mutige und ehrliche Reformvorschläge gemacht und allen ein hohes Reformtempo zugemutet - wahrscheinlich die Kern-Ursache für den Pyrrhussieg.
Die Deutschen waren einen ganzen Sommer lang begeistert, aber als es darauf ankam, haben sie gekniffen. Nicht die Politik der Union war verzagt, sondern das Publikum risikoscheu, schon als die allerersten Herbstnächte kamen. Die urplötzlich wieder erwachte Angst vor Veränderung, das Klammern ans Biedermeier wurde verstärkt durch das Nebeneinander zweier Steuerkonzepte bei der Union. Das hat die bürgerliche Basis ganz offenbar mehr verunsichert, als oben in Berlin bemerkt wurde.
Bitter, das deutsche Volk will offenbar so bedient werden, wie es Schröder, Eichel, und Fischer zur Genüge in den letzten Wahlkampfwochen getan haben.
Schön für die FDP, dass sie so stark geworden ist, aber katastrophal für Schwarz-Gelb. Die Wanderung von 1,2 Millionen Ex-CDU-Wählern zu den Liberalen war ein Kalkül auf die Vermeidung einer Großen Koalition. Merkel ja, aber nicht mit Schröder, sondern mit Westerwelle. Hilflos: Wer nur im Kreis geht, kommt nicht weiter.
Angela Merkel führte am Abend nur noch die minimal stärkere Fraktion. In einer großen Koalition wird sie, wenn überhaupt, nur mit einem hauchdünnen Vorsprung die Führung beanspruchen und - vor allem - permanent behaupten müssen. Das Ganze wird ein zerbrechliches Zweckbündnis auf Zeit, auch 1966 hielt das Konstrukt gerade zwei Jahre.
Die CDU bleibt in der Defensive. Nach dem haarscharfen Verlust 2002 und den hohen Erwartungen 2005 wird jeder neue Wahltermin - ob doch erst 2009 oder schon im nächsten Frühjahr - vom Stigma des Verlustes, dem Merkel-Makel, gezeichnet sein. Der Pechmarie klebt der schwarze Teer an Händen und Füßen.
Natürlich hat Gerhard Schröder die gewünschte Legitimation für seine Reformpolitik nicht erhalten. Was auch immer ihn geritten hat, am 22. Mai nach der NRW-Wahl vorgezogene Neuwahlen einzuleiten, es ist auch nach dieser Wahl nicht erkennbar.
Weder Schröder noch Merkel hat sich die jetzt eingetretene Situation wirklich vorstellen können. Die Jamaika-Koalition wird nach den unmissverständlichen Worten Guido Westerwelles, der als einziger gestern Abend klare Ansagen machen konnte, eine Schnapsidee bleiben.

Artikel vom 19.09.2005