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Rock'n'Roll
und Küsschen
in der Raupe

Musik-Express löste Verdeckbahn ab

Von Jürgen Spies
Delbrück (WV). Wer ungefähr 40 Jahre oder älter ist, wird sie noch kennen - die Raupe vom Rummelplatz. Markenzeichen dieser Berg-und-Tal-Bahn: das Verdeck, das gegen Ende der Fahrt zuklappte und damals in den 50er, 60er und frühen 70er Jahren verliebten Teenagern die Chance zum schnellen Küsschen bot. Dann ging das Verdeck wieder auf - neue Fahrt, neuer Spaß. Verdeck-Raupen gibt es nur noch auf Nostalgiejahrmärkten. Nachfolger dieses Karussells war später der Musik-Express, der längst selbst zum Kirmes-Klassiker geworden ist.

Den heute viel zu oft benutzten Begriff »Kult« gab es zu Raupe-Zeiten natürlich nicht, gleichwohl ist er passend, wenn in einer Rückschau von diesem Fahrgeschäft die Rede ist. Wie viele Karussells war auch die Raupe eine Erfindung aus den USA. Hersteller wie Spillmann oder Traver bauten eine Berg-und-Tal-Bahn und montierten im inneren Radius ein nach außen um die Chaisen zuklappendes Stoffverdeck - wohl nicht zufällig, denn schon damals waren Rummelplätze Tummelplätze frisch Verliebter oder Teenager auf der Suche nach einer Freundin oder einem Freund.
Das an Metallstreben (Achtung: Finger-Klemmgefahr) befestigte Verdeck ließ im heruntergelassenen Zustand und in der Dunkelheit keine Blicke der rund ums Fahrgeschäft stehenden Zuschauer zu - eine damals ideale Gelegenheit für die jungen Leute in den Chaisen, auf Tuchfühlung zu gehen. Die Fliehkraft bei zunehmendem Tempo tat ihr Übriges - man kam sich nicht unwillkommen näher, Küsschen inklusive. Dass die Raupe andernorts auch »Amor-Bahn« hieß, bestätigt dies nur. Und währenddessen ratterte die Raupe über die Schienen, bis sie schließlich abgebremst austrudelte.
In der Wirtschaftswunderzeit blieben die Jugendlichen oft stundenlang an der Raupe stehen, um zu beobachten, mitzufahren, gesehen und gesehen zu werden, im hinteren (dunklen) Teil des Rondells heimlich zu schmusen, verbotenerweise zu rauchen, die aktuellsten Hits zu hören oder zuzuschauen, wie die Schaustellerhelfer vor und während der Fahrt geschickt bis lässig-akrobatisch auf das umlaufende Trittbrett sprangen, um die Fahrchips einzusammeln.
Prinzipiell hat sich daran in den vergangenen 30, 35 Jahren am Nachfolger »Musik-Express« praktisch nichts geändert - nur das Verdeck gibt es nicht mehr. Aber nach wie vor ist der »Musik-Express« auf jedem Kirmesgelände das Fahrgeschäft, in dem die Musik am lautesten gespielt wird, wo die Bässe wummern, die Hitparade rauf und runter aus den Boxen dröhnt, Plattenwünsche bestellt und erfüllt werden, die Lichter, Glühbirnen, Spots und Stroboskope zucken.
Wenn heute der Katharinenmarkt und damit auch die Kirmes auf dem Wiemenkamp beginnt, geht's auch am ewig jungen »Musik-Express« wieder rasant zu. Den Karussell-Evergreen baut in Delbrück der Detmolder Schaustellerbetrieb Noack auf. Firmenchef Jürgen Noack: »Genau dieses Musik-Express-Exemplar steht in diesem Jahr zum 25. Mal in Delbrück - ein Jubiläum also!«, erzählt Noack, der das Fahrgeschäft vor etlichen Jahren gebraucht von seinem Schaustellerkollegen Dorenkamp gekauft hatte.
Mehr als 10 000 bunte Birnchen, mal blinkend, mal als Lauflicht, erhellen die Bahn; die beim Aufbau notwendigen Handgriffe sind der routinierten Noack-Truppe quasi in Fleisch und Blut übergegangen. Am Noack-Express gibt es eine Besonderheit: Auf die beliebten Rückwärtsfahrten müssen die Kirmesfans nicht lange warten: »Wir fahren jeweils eine Fahrt vorwärts, die nächste dann rückwärts«, weiß Jürgen Noack, was seine zumeist jungen Kunden wünschen.
Sein Sohn Jürgen Noack jun. übernimmt den größten Teil desJobs im Kassen-, Aufsicht- und DJ-Häuschen, zumal der 18-Jährige ein Händchen dafür hat, welcher Sound gefragt ist, welche Hits im Moment besonders angesagt sind. Und wenn er zum Schluss jeder Fahrt »Tempo, Tempo, Tempo!« macht, sollte man sich schon festhalten; dann macht der »Musik-Express« immerhin 14 Umdrehungen pro Minute, bergauf, bergab - aber ohne Verdeck.

Artikel vom 16.09.2005