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Er nahm das Geschirrtuch weg und zeigte mir den Riss in der Unterlippe, der wie ein Komma aussah, immer noch ein wenig blutete und bereits von einem blauen Fleck umgeben war.Warum kämpfen Männer? Aus Langeweile. Aus verletztem Stolz. Gelegentlich zur Selbstverteidigung. In diesem Fall wurde die Schuld der Hitze und dem Bier zugeschoben. Rosies saphirblaue Augen hatten das Ganze beobachtet: die Anschlagzettel mit ihrem Bild hingen vor dem Pub wie Wäschestücke auf der Leine und hoben und senkten sich, wenn ein Wagen vorbeifuhr.
Die Prügelei hatte im »Weißen Hirschen« stattgefunden, unter rostigen Schirmen und verdorrten Blumenampeln. Mein Großvater war auch dort gewesen. Als sie fertig waren mit dem Baden der Schafe, war er mit Daniel auf ein Bier hinuntergegangen. Das sah ihm gar nicht ähnlich - er trank nicht viel -, und meine Großmutter zankte ihn hinterher auch dafür aus. Heiße Sonne und ein kaltes Bier waren keine gute Mischung, erklärte sie. »Du hättest es besser wissen müssen, Dewi. Wie alt genau bist du eigentlich, um Himmels willen?«
Vielleicht war es unvermeidlich gewesen. Erhitzte Gehirne, erregte Gemüter, Alkohol und ein paar scharfe Worte - es wurden Anschuldigungen laut an diesem Nachmittag im Pub. Wer war dort gewesen? Mr. Wilkinson vom Reitstall, Dr. Matthews, Gerrys Vater und Lewis, was nicht überraschend war. Er schien seinen ganzen Lohn dort zu lassen. Vielleicht hatte er eine Schwäche für das Mädchen hinter der Theke. Das hätte ihm ähnlich gesehen.
Die Herausforderung war an alle gerichtet. Wer ist der Schweinehund, fragte Lewis, der hier mit Dreck am Stecken durch die Gegend schleicht? Ich sehe es vor mir - Lewis, der sich über den Tisch beugt und den Finger in die Luft stößt. Neunzehn Jahre alt, betrunken, und spielt sich auf wie der liebe Gott. Mit nacktem Oberkörper, damit alle seine Tätowierung sehen können. Was habt ihr für ein Alibi? Es war nur eine Frage der Zeit gewesen.
Mr. Wilkinson schlug zuerst zu.
Eigentlich keine richtige Schlägerei. Ich bin nicht einmal sicher, ob diese Faust wirklich etwas angerichtet hat - mehr ein Warnschuss als eine ernsthafte Zurechtweisung. Wahrscheinlich folgten ein paar schlecht gezielte Boxhiebe, wahrscheinlich ist ein bisschen Bier verschüttet worden; mehr wohl kaum. Sie waren alle miteinander nicht ganz nüchtern und auch nicht wirklich fähig, ernsthaften Schaden anzurichten. Aber Daniel hatte versucht, sie zu beruhigen. Er hatte sich zwischen die Raufenden geschoben, um ihre Fäuste abzufangen, und dafür war er bestraft worden.
»Wer war das?«, fragte ich. »WarÕs Lewis?«
»Es spielt keine Rolle, wer es war. Es war keine Absicht.«
»War es Mr. Phipps?«
Daniel schaute mich an. »Mr. Phipps? Der war gar nicht da. Oder wenigstens ist er erst später gekommen. Die Geschichte hat wahrscheinlich die Runde gemacht. Und da musste er natürlich auch seinen Senf dazugeben.«
»Seinen Senf? Was hat er gesagt?«
Er tupfte sich die Lippe ab. Sie blutete noch immer ein wenig, und er betrachtete das Geschirrtuch. »Unsinn. Wie gewöhnlich. Ausgerechnet Billy Macklin hat er beschuldigt. Kein Beweis, keine Argumente, überhaupt nichts. Wer weiß schon, ob Billy überhaupt noch da wohnt? Hier schnappen langsam alle über, Evie.« Plötzlich betrachtete er mich von oben bis unten. »Wo bist du gewesen? Es ist sieben vorbei.«
Ich stand in meiner nassen Tracht im Hof und spürte, wie mein Zorn sich in mir ballte wie eine Faust.

Jemand, den wir kannten, hatte Mrs. Maddox gesagt. Einer von uns. Ich schlug mit den Türen im Haus; mein Zorn kochte in mir wie in einem Dampfkochtopf, der gleich explodieren würde. Gerry und ich verbrachten weniger und weniger Zeit miteinander - ich war vermutlich langweilig für ihn mit meinem Kopf voller Rachepläne und meinem Herzen voller Wut. Ich hörte ihm nie wirklich zu. Selbst als er mit einem blauen Fleck, groß wie ein Schmetterling, auf der Unterseite des Arms in die Schule kam, sagte ich nichts. Ich kochte in meinem eigenen Saft; in der Schule, im Bus, in der Schäferhütte. Manchmal ging ich sogar in die Kirche und saß dort im kühlen Halbdunkel. Das war ein guter Platz zum Nachdenken, stellte ich fest. Und es war auch der Ort, wo ich endgültig beschloss, wie ich mich rächen würde.
Dachte ich wirklich, dass Mr. Phipps Rosemary Hughes entführt, verletzt und getötet hatte? Das ist eine gewaltige, ungeheuerliche Anschuldigung. Ein Angriff, den ich normalerweise gegen niemanden wagen würde, denn wer mit Dreck beworfen wird, an dem bleibt immer etwas hängen, wie meine Großmutter sagte. Und an der weißesten Wand sieht man es am deutlichsten: Er war vielleicht ein böser, elender und verdrehter Kerl mit schlechtem Atem und einem roten Gesicht, aber er hatte kein wirkliches Verbrechen begangen. Zumindest hatte er sich nicht der Entführung schuldig gemacht, aber ich war entschlossen, ihn zu bezichtigen. Mit dem Strahl einer Taschenlampe wollte ich seinen Namen ausleuchten und sagen: Da! Das ist er!
Das Alter ist in gewisser Weise eine Entschuldigung. Ich wusste es nicht besser. Mir war nicht klar, was ein Mann einer Zwölfjährigen antun konnte. Nein. Ich glaubte nicht, dass er schuldig war. Ich glaubte nicht, dass Mr. Phipps zu irgendetwas anderem fähig war als zu gemeinen Worten. Aber gemeine Worte genügten.
Ich erzählte der Polizei, dass er es gewesen sei. Damit du weißt, wie das ist, wenn man angestarrt wird, wenn einem misstraut wird. Damit du es weißt.

* * *
Ich suchte sie nicht in der Wachstube auf. Ich lief auch nicht zum Chefinspektor, als ich ihn das nächste Mal sah, zupfte ihn am Ärmel und sagte: Ich habe eine Neuigkeit. Ich wartete, bis sie wiederkamen - denn dass sie das tun würden, wussten wir alle. Sie hatten keinerlei Hinweise, keinen Ansatz.
Zwei Tage nach meinem Ausflug zum See und der Rauferei im Pub, als Daniels Lippe zu heilen begann, kam ich von der Schule zurück, und er lehnte mit einer Zigarette in der Hand am Schafgatter. Neben ihm stand der Inspektor. Auch er rauchte; er hielt die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger wie einen Wurfpfeil.
»Guten Tag, Evangeline.«
Mein Herz klopfte. »Hallo.«
Daniel lächelte mir mit den Augen zu. »Kein Grund zur Aufregung, Olwen. Er ist nur hier, um noch ein paar Fragen zu stellen. Und auf eine Tasse Tee.«
Durch meine Haare hindurch starrte ich den Polizisten an. »Möchten Sie mit mir reden?«
»Wenn du willst.«
Daniel blieb in der Nähe. Er beugte sich über den Zaun und rollte die Schultern, als hätte er steife Knochen. Ich konnte ihn aus dem Augenwinkel sehen.
»Evangeline, kennst du einen William Macklin? Hast du von ihm gehört?«
Ich kann gut lügen. Konnte ich immer schon.
»Wen?«
»Billy Macklin. Eure Nachbarin, Mrs. É« - er warf einen Blick in seine Notizen - »Maddox, sagt, du hättest sie nach ihm gefragt. Vor ein paar Monaten. Ist das richtig?«
»Oh É Billy Macklin. Ich wollte nur die Geschichte hören. Sie wissen schon - von dem Pferd und so. Nur das.«
Er nickte. »Okay. Aber getroffen hast du ihn nie?«
Er musterte mich scharf. Ich verschränkte die Arme hinter dem Rücken, schaukelte unschuldig ein bisschen hin und her, wie kleine Mädchen das so tun. »Nein«, sagte ich. »Wo hätte ich ihn denn treffen können?« Ich blickte ihn mit einem gewinnenden Lächeln an. »GibtÕs den denn überhaupt?«
»Doch, doch, es gibt ihn. Und wir müssen ihn finden. Sein Haus ist leer, verfallen, also wenn du etwas hörst É«
»Warum? Glauben Sie, dass er es getan hat?«
»Es?«
»Rosie umgebracht.«
Chefinspektor Gregory klappte seinen Notizblock zu und schob ihn in die Tasche. »Wir haben noch keine Leiche, Miss Jones. Wir möchten nur mit ihm reden. Er ist der Typ, der etwas wissen könnte. Das ist alles.«
Lügner, dachte ich.
Wer selber einer ist, erkennt den anderen.
Während er sich über den Hof entfernte, blickte ich zu Daniel hinüber. Er sah zum Tor-y-gwynt hinauf.
Ich schaute weg. Ich wollte nicht, dass unsere Blicke sich trafen, wollte nicht riskieren, dass diese taubengrauen Augen mir auf die Schliche kämen und mein ganzer Plan aus mir herauspurzeln und sich über den Hof verstreuen würde wie Vogelfutter. Vor ihm konnte ich nichts verbergen. Ich hatte Angst, dass meine Lüge mir aus den Augen funkeln und er sie sehen und mich dann niemals lieben würde.

»Chefinspektor Gregory!«
Ich erwischte ihn auf unserer Straße in Höhe der Kuhweide. Er war überrascht, mich zu sehen, und runzelte die Brauen.
»Ich denke, Sie sollten mit Mr. Phipps sprechen. Dem der Laden gehört. Ich glaube, er weiß etwas.«
Der Polizist beugte sich ganz nah zu mir herunter. Er musterte mein Gesicht und sagte: »Wie kommst du darauf, Evie?«
»Er hat É so Sachen gesagt.«
»Was für Sachen, Evangeline?«
Ich blickte ihm direkt in die Augen und sagte: »Er hat gesagt, dass ich die Nächste sein werde. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.09.2005