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»Tasso« völlig
schwerelos

Toller Kammerspiel-Saisonauftakt

Von Manfred Stienecke
Paderborn (WV). Mit einer schlüssigen Darbietung des Goethe-Schauspiel »Torquato Tasso« haben die Westfälischen Kammerspiele einen guten Start in die neue Spielzeit hingelegt.

Gastregisseurin Maya Fanke konzentriert sich in ihrer gelungenen Inszenierung ganz auf die Kernfrage des Goethe'schen Dramas, welche Rolle der Kunst in der Gesellschaft zukommen kann. Ihr Dichter Tasso bewegt sich als impulsiver, dabei leicht reizbarer und empfindlicher Freigeist am Hofe Alphons', des liberal-aufgeklärten Herzogs von Ferrara (souverän: Willi Hagemeier). Trotz ökonomischer Unabhängigkeit fühlt sich der Dichter in seiner künstlerischen Selbstbehauptung eingeschränkt. Dabei genießt er höchste Anerkennung der Hofgesellschaft.
Sven Reese verleiht der zerrissenen Figur des Tasso markante Konturen. Äußerlich ganz der exaltierte Bohemien, entpuppt sich der dünnhäutige Günstling schnell als larmoyantes Sensibelchen, das sich von der Umwelt missverstanden, in seiner Entfaltung beschnitten und als reines Opfer herablassenden Mäzenatentums behandelt fühlt. Auch sein Liebeswerben um die kunstsinnige und ihm doch nur platonisch zugewandte Schwester des Herzogs, Leonore (Birgit von Rönn in klar gezeichneter Rolle), erlebt eine tiefe Enttäuschung.
Sein eigentlicher Gegenspieler ist der Staatssekretär am Hofe, Antonio (das Kammerspiel-Publikum erlebt Frerk Brockmeyer in seiner bislang besten Charakterrolle). In seiner bewusst provokanten Art relativiert er die Bedeutung der Kunst auf schmückendes Beiwerk und verzichtbare Zerstreuung, um Tasso in die Schranken zu verweisen. Dennoch spricht er der Dichtkunst ihre Förderwürdigkeit nicht grundsätzlich ab - ein schwieriger Balanceakt, den Brockmeyer als gewiefter Diplomat elegant meistert - der Eindruck eines schäbigen Intriganten jedenfalls drängt sich nicht auf.
Bliebe als fünfter Figurenpol in dem fein austarierten Kammerspiel noch Eva Mende, die als Gräfin von Scandiano für die darstellerischen Glanzpunkte sorgen darf. Sie weiß geschickt die Fäden zu knüpfen, deren Enden sie überall dort ergreift, wo sie sich persönliche Vorteile verspricht. Sie ist der berechnende Vamp, der sowohl Tasso als auch Antonio um den Finger wickelt. Schön die Szene, in der sie sich - über ihre Möglichkeiten sinnierend - in eine angriffslustige Katze verwandelt und verräterisch die Krallen ausfährt. Immer wieder arbeitet die durchdachte Regie mit versteckten kleinen Hinweisen auf die jeweilige Gemütslage der handelnden Personen.
Die größte Überraschung der rundum gelungenen Saisonpremiere aber liefert das Bühnenbild von Stephan Mannteuffel. Es sorgt mit einem gespiegelten Raumbild für faszinierende visuelle Spielmöglichkeiten. So erlebt das Publikum zunächst Tasso allein in seinem - Goethes Weimarer Schreibstube nachempfundenen - biedermeierlichen Arbeitszimmer. Doch die Szene auf der schräg in den Bühnenraum geschwenkten Spiegelfläche wirkt eigenartig schwerelos - kein Wunder! Sven Reese bewegt sich auf dem Bühnenfußboden, auf dem das Zimmer nur aufgemalt ist. Das wahrgenommene Spiegelbild ist nur eine virtuelle, dabei reizvolle Augentäuschung.
Gegen Ende kehrt sich die Perspektive um: Nun ist nicht mehr Tasso in seiner Schreibkemenate eingesperrt, jetzt sucht die restliche Hofgesellschaft in der Dichterstube nach Orientierung. Die Kunst ist eben ein eigenwilliges Metier. Sie lässt sich nur schwer einordnen und entzieht sich rationaler Planbarkeit.
Das Premierenpublikum spendete nach der nur neunzigminütigen, ohne Pause eingerichteten Aufführung begeisterten Schlussapplaus, der nicht nur den überzeugend agierenden Schauspielern, sondern auch Regisseurin Maya Fanke und dem für die Gesamausstattung verantwortlichen Stephan Mannteuffel galt.
Dass Goethe sein Kammerspiel im italienischen Ferrara angesiedelt hat, legt mediterrane Bezüge nahe. An eine finnische Sauna aber hat der Weimarer Dichterfürst ganz sicher nicht gedacht. Für alle Beteiligten - zuvorderst natürlich das Spielensemble - war die Premiere am Donnerstagabend ein schweißtreibendes Unterfangen bei fast unerträglicher Schwüle im Theater. Da wächst die Vorfreude auf den geplanten Kammerspiel-Neubau!

Artikel vom 10.09.2005