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Narkosemedizin für Babys noch in Kinderschuhen

Experten-Mangel macht Deutschland zum Schlusslicht in der EU - keine gesonderte Ausbildung

Die sieben Monate alte Denise im Kinderkrankenhaus in Köln. Das Mädchen hat eine angeborene Schluckstörung und trägt ein Atemregulierungsventil. Foto: dpa

Von Yuriko Wahl
Köln (dpa). Das Leben der kleine Denise hing an einem seidenen Faden. Wegen einer angeborenen Schluckstörung konnte das zu früh geborene Mädchen nicht aus eigener Kraft atmen. »Im Alter von vier Wochen wurde sie zu uns verlegt, nachdem sie bereits eine Herzoperation hinter sich hatte und fast aufgegeben worden war«, sagt Josef Holzki, Chefarzt der Kinderanästhesie und operativen Intensivmedizin im Kölner Kinderkrankenhaus. Nach zehn Eingriffen ist Denise im Alter von sieben Monaten nun stabil und verlässt die Klinik. Von zentraler Bedeutung bei Operationen in dieser Höchstrisiko-Patientengruppe sei der Narkosearzt, betont Holzki. Fehler bei der Narkose können irreparable Schäden verursachen. Doch: »Bei den Kinderanästhesisten gehören wir zahlenmäßig zu den absoluten Schlusslichtern in der EU.«
700 Experten aus aller Welt drängten beim 6. Europäischen Kongress für Kinderanästhesie in Köln darauf, mehr Spezialisten für die Kleinsten auszubilden und das bisher stiefmütterlich behandelte Fach als Spezialgebiet anzuerkennen. Nach den Erfolgen in der Neu- und Frühgeborenen-Medizin wird der Anästhesist zu Operationen gerufen, bei denen der Patient noch nicht einmal ein Kilogramm auf die Waage bringt. »Da darf nur ein Spezialist dran, der ganz genau weiß, wen er da vor sich hat«, betont Chefarzt Holzki (65).
Doch die Realität sieht laut Experten anders aus. Die Narkosemedizin für die Kleinsten steckt noch in den Kinderschuhen, hieß es auf dem Fachkongress. In Deutschland gibt es keine gesonderte Ausbildung zum Kinderanästhesisten. »Der normale Anästhesist für die Erwachsenen muss für seine Facharztprüfung nur 50 Kinder unter fünf Jahren narkotisiert haben - und das sind meistens einfache Fälle wie Mandeloperationen«, sagt Holzki.
Eine falsche Narkose kann zu lebenslangen Hirnschäden führen. Ein gesundes Kind sei bei einer Leistenoperation von einem Nicht-Spezialisten falsch narkotisiert worden und leide seitdem unter spastischer Lähmung, berichtet Holzki. »Wir haben ein Kind bekommen, bei dem die Narkose-Einleitung schlecht gemacht worden war und viele Stunden dauerte, alle Venenzugänge waren total zerstochen. So etwas haben gerade die Kleinsten nicht verdient, sie brauchen eine optimale Versorgung«, meint der Kölner Arzt, der auch Präsident der Europäischen Föderation der Kinderanästhesisten (FEAPA) ist.
Bundesweit mehr als 2000 Neugeborene müssen nach Hochrechnungen von medizinischen Fachgesellschaften bereits bis zum 28. Lebenstag operiert werden, da schwere Schäden etwa an Herz oder Hirn keinen Aufschub erlauben. Genaue Zahlen gibt es nicht, auch nicht über die noch seltenen Kinderanästhesisten. Nach Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie sind es rund 240 Spezialisten bundesweit. Eine Statistik aus Polen für den Kölner Kongress sieht Deutschland mit geschätzten 0,15 Kinderanästhesisten pro 10 000 Kinder bis 14 Jahren auf einem der letzten Plätze in Europa, gemeinsam mit Belgien, den Niederlanden und Rumänien.
Allein in der Kölner Kinderklinik werden 200 Früh- und Neugeborene bis zum 28. Lebenstag pro Jahr operiert, 4600 Kinder insgesamt. Wegen der Erfolge der Klinik im Spezialgebiet Luft- und Speiseröhren- Fehlbildungen kommen die Patienten auch aus dem Ausland und allen Teilen Deutschlands. Bei Denise hatten Spezialisten festgestellt, dass Gefäße die Speiseröhre einengten. Zehn Narkosen hat der Säugling überstanden, alle Eingriffe verliefen Holzki zufolge erfolgreich. Ein Atemregulierungsgerät hilft Denise noch beim Einatmen - Ausatmen, Essen und Trinken kann sie inzwischen ohne Apparate.

Artikel vom 16.09.2005