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Lehrer in der Landwirtschaft

Annegret Rögge beschäftigt sich mit den Notschuljahren in Vlotho

Von Hartmut Horstmann
Vlotho (VZ). Vlotho unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg: Auch die Schulen, sofern sie überhaupt existierten, waren vom Zusammenbruch betroffen. Mit den so genannten Notschuljahren beschäftigt sich Annegret Rögge. Ihre Forschungsergebnisse hat sie der Geschichtswerkstatt Exter in einem Vortrag vorgestellt.

In umfangreicherer Form sollen ihre Ausführungen im nächsten historischen Jahrbuch des Kreises Herford enthalten sein.
»In den Schulen saßen von Kriegserlebnissen traumatisierte Kinder - größtenteils mit leeren Mägen, mangelhaft bekleidet, häufig ohne Schulbücher. Notdürftig wurden sie unterwiesen von Lehrern, die ohne Unterrichtsmaterialien oder Lehrplan Verantwortung in überfüllten Klassen zu tragen hatten«: In wenigen Sätzen gelingt es der Heimathistorikerin, ein plastisches Bild von der damaligen Situation zu zeichnen.
Stichwort »traumatisierte Kinder«: Rögge bezieht sich auf die in der VLOTHOER ZEITUNG mehrfach vorgestellte Aufsatzsammlung der kleinen Schule auf dem Winterberg. 52 Schüler der oberen Klassen schreiben in den Jahren 1951/1952 ihre Lebensläufe nieder: »Fast alle Kinder beschreiben durch den Krieg hervorgerufene traumatische Erlebnisse.« Herzzerreißend, so die Referentin, seien die »Schilderungen von Flucht, Vertreibung, Bombennächten und dem Tod naher Verwandter.«
Erst nach Monaten, im September 2005, nahmen die Schulen ihren Betrieb teilweise wieder auf. Zuvor waren Schüler und Lehrer unter anderem zu Arbeiten in der Landwirtschaft herangezogen worden. Und da Pädagogen klug sind, mussten sie sich auch an Viehzählungen beteiligen.
Bevor der Unterricht wieder beginnen konnte, galt es, die Räumlichkeiten wiederherzustellen. Zu den Schulen, an denen kein eigener Raum mehr genutzt werden konnte, zählte die Bürgerschule Vlotho (heute Grundschule). Seit 1944 diente sie als Kriegslazarett, später wurde sie zum Kriegsgefangenenlager. Erst 1949 hatte das mit der Fremdnutzung verbundene Provisorium ein Ende - bis dann hatte man für den Unterricht auf andere Gebäude zurückzugreifen: unter anderem auf das Gemeindehaus und den Saal des Hotels Lütke.
Anders sah es in Exter aus, wo das Schulgebäude wegen des Widerstands der Deutschen unter Beschuss genommen worden war. Bis zum Sepember 1945 waren zwei Klassenräume notdürftig hergerichtet.
Zu den räumlichen Problemen kam die Lehrerknappheit, die auf Grund von Krieg und Vorgaben des Alliierten Kontrollrates entstanden war. Die noch vorhandenen Lehrer mussten nachweisen, »dass sie entweder keine Parteiangehörigen oder aber dass sie nur nominelle Mitglieder waren«.
Doch allmählich wurde die Strenge der Auswahl etwas gelockert. Einer der Gründe ist einem Schreiben des Schulrats Dr. Salge zu entnehmen: »Die niedrige Zahl der bisher zugelassenen Lehrer hat es nicht erlaubt, alle Schulen in Gang zu setzen.« Die Folge: Lehrer, die bisher Probleme hatten, erhielten die Unterrichtserlaubnis.«
Improvisationstalent war gefragt, was die Lehrmittel betraf. Sofern ihre Inhalte nationalsozialistische Züge trugen, mussten sie vernichtet werden. Rektor Albs-meier von der Bürgerschule schreibt in seiner Chronik: »Zu Beginn des Jahres 1946 kamen dann die ersten neuen Lese- und Rechenbücher - im Durchschnitt auf etwa 10 Kinder ein Buch.«
Hinzu kamen Hunger und Armut - erst mit dem von Marshall konzipierten Europäischen Wiederaufbauprogramm besserte sich nach 1948 die Versorgunglage entscheidend - die Notschuljahre waren vorbei.

Artikel vom 08.09.2005