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Das neue Gefühl der Fünfziger lebt

Aktionswoche der Senioren erinnert an privaten und gesellschaftlichen Aufbruch

Von Moritz Winde (Text und Foto)
Bad Oeybhausen (WB). »Ich hatte Arbeit, war frisch verliebt und freute mich auf meine Hochzeit.« Trude Seegert erinnert sich gern an ihre Jugend in der Nachkriegszeit und ist ähnlich wie die übrigen Bewohner des Altenpflegeheims Pust von der diesjährigen Aktionswoche begeistert. »Eine Reise in die Fünfziger« lautet das Motto der sieben Veranstaltungstage, die die Zeitzeugen zurück in die Vergangenheit versetzt. In die Zeit, die geprägt war von wirtschaftlicher Blüte und Vollbeschäftigung, Technisierung und gesellschaftlicher Umstruktierung.

In diesem Jahr hat sich das 20-köpfige Team der drei Altenpflegeheime Pust in Bad Oeynhausen und Minden für die rund 60 Senioren mit dem Thema der schon zur Tradion gewordenen Aktionswoche etwas Besonderes einfallen lassen. »Wir wollen insbesondere versuchen, die demenzkranken Bewohner zu erreichen«, hofft Pflegedienstleiterin Erika Vogel, dass die Menschen mit beeinträchtigter Gedächtnisleistung an ihre Jugendzeit erinnert werden. Aber auch die geistig fitten Bewohner kommen auf ihre Kosten und werden durch typische Musik, Videos, Fotos, Spielen, Exponaten und Speisen der 50er Jahre in die Zeit des Rock'n Roll zurückversetzt. »Als Konrad Adenauer Bundeskanzler wurde, ging es mit Deutschland endlich wieder bergauf. Wir waren ja alle heilfroh, dass der Krieg nun vorbei war«, schildert Herbert Ignys seine Erinnerungen an die Wirtschaftswunderzeit. Denn damals sei es allen besser gegangen. »Arbeit gab es im Überschuss. So viel, dass wir es allein gar nicht geschafft haben«, sagt der 69-Jährige, der 1951 seine Maurerlehre in Gelsenkirchen begann, über das derzeitige Arbeitsmarktproblem. Dies sei seiner Meinung nach auch der Hauptgrund, warum sich die Gesellschaft zum Negativen verändert habe. »Heutzutage fehlt der Zusammenhalt. Es ist in dieser Ellbogen-Gesellschaft anonym geworden. Das stört mich gewaltig«, sagt Herbert Ignys, der mit einem Grinsen im Gesicht auf die 50er-Jahre-Fotos der Altenpflgeheimbewohner zeigt: »Das da mit den langen Haaren und dem Schnäuzer bin ich«, schmunzelt Ignys und gibt zu bedenken, dass sich die Mode stark gewandelt habe. Auch Hanny Schwenske erkennt sich auf den Bildern von vor 50 Jahren wieder. Freudestrahlend deutet sie mit dem Finger auf ein Foto, auf der eine junge, gutaussehende Frau im Petticoat, die neckisch in die Kamera guckt, zu sehen ist. »Damals, mit 22, war ich noch hübsch«, sagt die Seniorin heute, die besonders das nach dem Krieg entstandene neue Lebensgefühl in guter Erinnerung hat. Davon kann auch Trude Seegert ein Lied singen. »Es herrscht eine tiefe Sehnsucht in mir. Obwohl ich auf eine Art froh bin, mein Leben gelebt zu haben, wünsche ich manches Mal wieder mit meinen sechs Kindern und meinem Ehemann zusammen sein zu können«, beschreibt die 75-Jährige ihre Gefühlswelt und macht es sich mit einem Stück typischen Gebäcks der 50er Jahre, dem »kalten Hund«, auf einem Coktailsessel bequem. Viele zeitgenössische Alltagsgegenstände aus den 50ern sind von den Familien und Verwandten der Altenpflegeheimbewohner zur Verfügung gestellt worden und sind in den Räumlichkeiten zu bestaunen. So erinnern Plattenspieler, Nähmaschine und Puppenwagen an die Zeit, als die Capri Fischer und Vico Torrianis Hits in deutschen Radios rauf und runter liefen.
Die Reise in die Fünfziger endet am Samstag mit einem großen Sommerfest. Schülerinnen der Realschule Süd und des Kant-Gymnasiums werden die Senioren mit einer Modenschau überraschen.

Artikel vom 08.09.2005