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Das Wort zum Sonntag

 Von Pfarrer Christoph Fischer, Gehlenbeck


»Den Krieg vergessen Sie nie«. Der ältere Herr erzählt an seinem Geburtstag: »Ich war das siebte von acht Kindern bei uns Hause. Ich habe vor vielen Jahren meinen Vater gefragt, warum er und meine Mutter mich noch bekommen haben. Mein Vater hat daraufhin gesagt: »Aber Junge, wir haben dich bekommen, weil wir es wollten, und sonst gäbe es dich doch gar nicht!?« Ja schon, habe ich geantwortet, aber ich hätte dann nicht in den Krieg müssen.«
Das eigene Leben gegen die Erfahrung als Soldat im zweiten Weltkrieg. Da würde ein Mensch sein Leben zurückgeben, wenn er dafür nicht den Krieg erlebt hätte, den Krieg in Russland, Stalingrad, die Gefangenschaft, aus der er nur mit viel Glück nach Hause gekommen ist.
Mit viel Glück und mit Bildern, die er in seinem ganzen Leben nicht vergisst: Nachts wacht er manchmal auf, sieht den Freund neben sich, dem ein Blutschwall aus seinem Mund kommt als letzten Hauch seines Lebens. Er sieht seine Freunde sterben, die genauso jung sind wie er, gerade 20 Jahre. Er sieht die Leichen von russischen Kindern und Erwachsenen vor sich, an denen sie vorbeifahren, gestorben durch ihre Hände.
Das eigene Leben gegen die Erfahrung als Soldat im zweiten Weltkrieg.
Es leben immer noch Menschen in unserem Land, die sich erinnern können und die den Krieg in all' seinen Schrecken miterleben mussten als Soldaten oder Zivilisten. Menschen, die Konzentrationslager überlebt und Vertreibungen überstanden haben. Sie haben überlebt, aber waren danach nicht mehr dieselben Menschen. Das Leben ist für immer verändert.
Morgen, am Volkstrauertag, erinnern wir uns daran, was Menschen einander antun können. Wir gedenken der Opfer der beiden Weltkriege. Wir denken daran, dass Menschen für eine sinnlose Sache ihr Leben gelassen haben. Wir denken an die Kriege, die schmerzhafte Erinnerungen hinterlassen haben, so wie bei dem alten Mann.
Wir schauen in die Vergangenheit, wenn wir uns versammeln und Kränze niederlegen. Und doch hat das Ganze nur einen Sinn, wenn wir an diesem Tag an den Mahnmalen und in unseren Gottesdiensten auch darüber nachdenken, was gegenwärtig und zukünftig geschieht, was Menschen immer noch und immer wieder einander antun. Eine traurige Lehre der Geschichte ist, dass Menschen zu allem fähig sind und nur sehr wenig lernen. Wir verdrängen viel aus unseren Erinnerungen, was in vielen Fällen überlebensnotwendig ist.
Wir verdrängen aber auch viel von dem, was wir heute wahrnehmen müssten: Beim Erdbeben in Pakistan sterben vielleicht mehr Menschen als bei der großen Flut in Südostasien, und dem Krieg im Zentrum Afrikas sind bisher soviel Menschen zum Opfer gefallen, dass einige Beobachter schon vom »Dritten Weltkrieg« sprechen, der unbemerkt von der Weltöffentlichkeit stattfindet.
Wir Menschen können viel und wir sind zu vielem fähig, zum Guten und zum Bösen. »Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist« heißt es im Alten Testament. Wir wissen es eigentlich besser. Wir wissen, was uns weiterhilft: Die Liebe zu anderen Menschen, die Achtung vor dem Leben und der Respekt vor Gott. Der Respekt davor, dass alle Menschen Geschöpfe Gottes sind, gerade die, bei denen wir uns das am wenigsten vorstellen können.
Wir wissen es, wir vergessen es nur zu oft.

Artikel vom 12.11.2005