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»Unsere schlimmste Niederlage!«

Handball: Heute vor 30 Jahren verspielte der TuS Nettelstedt den Feld-DM-Titel

Von Wolfgang Sprentzel und Ingo Notz
Lübbecke/Nettelstedt (WB). August 1975. Ein herrlicher Sonntag im Wiehengebirge ist angebrochen. 40 Grad Hitze. Tausende von Menschen strömen ins Stadion in Lübbecke. Sie alle (ungefähr 8-10000 Handball-Enthusiasten) wollen Zeuge eines großen historischen Augenblicks werden. Im Stadion Obernfelder Allee soll zum letzten Male in der Geschichte des deutschen Handballs ein Endspiel um die deutsche Feldhandball-Meisterschaft durchgeführt werden. Mit dabei: der TuS Nettelstedt.

Und der TuS Nettelstedt, dank prominenter Zugänge in jedem Jahr kontinuierlich verstärkt worden (allerdings in erster Linie für die Halle), ist nicht nur einer der Finalisten - nein. Nach den Erfolgen in der Meister-K.o.-Runde sind die Mannen um den Rekord-Internationalen Herbert Lübking und den jugoslawischen Olympia-Sieger Milan Lazarevic absolute Top-Favoriten gegen das aus Sicht der Ostwestfalen eher unbeschriebene Blatt TSG Haßloch. . .
Auch in den Augen der Lübbecker Fans und denen aus der Umgebung sind die Nettelstedter der klare Favorit. Doch es kommt am Ende ganz anders. Die TSG Haßloch setzt sich mit 15:14 durch, der TuS Nettelstedt wird nur Vizemeister. Die Sensation ist so groß wie der Jubel in Haßloch und der Katzenjammer in Nettelstedt.
Herbert Lübking, der Mann, dessen Name untrennbar mit dem Aufstieg des TuS Nettelstedt, des heutigen TuS N-Lübbecke, verbunden ist, kann sich noch gut an jenen Sonntag erinnern: »Die Erwartungshaltung im Umfeld war riesengroß. Um so größer allerdings auch die Enttäuschung. Alle hatten geglaubt, wir machen das schon. Aber denkste. Gefeiert haben wir trotzdem, als wenn wir Deutscher Meister geworden wären.«
In einem Autokorso mit vom damaligen Hauptsponsor Hucke gestellten Oldtimern sei es durch Nettelstedt gegangen. »Die Feier war erst in den frühen Morgenstunden zu Ende!«
Dabei hatte bei den Nettelstedtern alles eher als Jux angefangen. Hatten doch weder Schibschid noch Lazarevic zuvor auf dem großen Feld gespielt. »Aber plötzlich«, lächelt Herbert Lübking, »hatten alle Spaß am Feldhandball gefunden. Die waren richtig heiß drauf. Vor allem, nachdem wir ein Spiel nach dem anderen gewonnen hatten.«
Ursprünglich hatte man ja in Reihen der Nettelstedter jede Auswärtsfahrt, egal, ob nach Ferndorf, Krefeld-Oppum oder Lemgo (die damaligen Feldhandball-Hochburgen in NordrheinWestfalen), schon als letzte eingestuft. »Und jedes Mal haben wir gewonnen. Das war schon eine echte Sensation.«
Und wer weiß, wie die Begegnung gegen die TSG Haßloch ausgegangen wäre, hätte das deutsche Handball-Idol sich nicht drei Tage vor dem Finale eine dicke Grippe eingehandelt, die ihn aufs Krankenlager geworfen hatte. »Nein«, erinnert sich Herbert Lübking, »nach dieser Grippe war ich überhaupt nicht gut drauf.«
Apropos »nicht gut drauf«. Das trifft auch derzeitig auf den Alt-Internationalen zu. Erst vor fünf Wochen musste sich Herbert Lübking einer Hüftoperation unterziehen. In einer Hamburger Klinik erhielt er eine neues Hüftgelenk. »Es ging nicht mehr anders. Beim Tennisspielen habe ich immer wieder erhebliche Schmerzen verspürt!«
Doch die Operation sei gut verlaufen, es gehe schon wieder aufwärts. Und an Feldhandball denkt der frühere Rekord-Nationalspieler schon lange nicht mehr. »Klar, wir Feldhandball-Weltmeister von 1966 treffen uns zwar noch bisweilen. Aber mit dem gemeinsamen Handballspielen haben wir schon lange aufgehört. Die Feldhandballzeit ist wohl endgültig vorbei.«
Erinnerungen an diesen Tag vor 30 Jahren hat natürlich auch noch der derzeitige 1. Vorsitzende des TuS Nettelstedt, Willi Kottkamp, der im Jahr 1975 Handball-Abteilungsleiter war. Und der demnächst 70 Jahre alt werdende Kottkamp verzieht heute noch das Gesicht zu einer leicht säuerlichen Miene, wenn er an diesen Tag denkt: »Ich erinnere mich noch gut. Alles hatte an diesem Wochenende gepasst. Absolut gelungene Organisation (die Parkmöglichkeiten mussten damals für 10000 Zuschauer gestellt werden!), strahlender Sonnenschein, ich glaube, wir führten sogar schon mit 5:0 - und dann diese Enttäuschung. Ich habe es damals gesagt, ich habe es noch viele Jahre später gesagt und ich sage es noch heute: Diese Niederlage in Lübbecke war die größte sportliche Enttäuschung meines Lebens. Das war die schlimmste Niederlage, die ich je erlebt habe. Für mich war das schlimmer als später die beiden Abstiege aus der Ersten Bundesliga!«
Vielleicht auch deswegen, weil sich alle im Nettelstedter Umfeld zu sicher waren. Willi Kottkamp: »Einige hatten Haßloch in Spielen vor dem Endspiel gesehen. Und alle sagten: Mann, wenn Ihr die nicht schlagt.«
Und es sah auch nach einem absoluten Durchmarsch des großen Favoriten Nettelstedt aus. 3:0, 5:0, dann sogar 7:0! Und es wäre noch mehr möglich gewesen: »Jürgen Glombek hätte sogar das 8:0 machen können, traf aber nur die Latte. . .«, erinnerte sich Kottkampf mit Grauen. Aber auch ein 7:0 war weit mehr als die halbe Miete auf dem Weg zum ersten Meistertitel: »Das war normal nicht mehr möglich, das noch aufzuholen. Das war dann bei uns eine reine Kopfsache. Man hat es schon in den Gesichtern gesehen. Wir hatten es schon geschafft. . .«, bemerkte Kottkamp damals schon die zu frühe Feierlaune. Und so kam eben alles anders. Haßloch holte Tor um Tor auf und setzte sich am Ende mit 15:14 durch. Kottkamp: »Es war nicht auszuhalten. Auch deswegen nicht, weil unser damaliger Trainer Erich Klose in Sachen Torwartfragen immer wieder zauderte. Willi Möhle stand im Tor. Mit wechselndem Erfolg. Mal hielt er einen, dann ließ er wieder einen haltbar scheinenden Ball durch. Dabei stand Heinz Becker doch schon parat. Aber wie gesagt: Klose zauderte. So lange, bis wir das Spiel verloren hatten.«
Schmunzelnd erinnert sich Kottkamp freilich auch noch an den Autokorso mit den Oldtimern aus dem Museum. »In Holzhausen startete die Fahrt und endete in Nettelstedt.« Die überraschende Niederlage hatte noch andere Folgen - schließlich hingen überall auf dem Weg vom Stadion nach Nettelstedt schon Plakate, die dem vermeintlichen neuen Deutschen Meister gratulierten -ĂŠaber eben nicht Haßloch. . . »Es war alles sehr schön geschmückt - vor allem mit den Plakaten: 'Wir grüßen den deutschen Meister!'«, kann Kottkamp die Szenen noch so abrufen, als seien sie erst gestern Wirklichkeit gewesen. So unerwartet die Nettelstedter Niederlage letztlich war, so hektisch wurde es danach. So musste in der Kürze der Zeit fieberhaft hinter den Kulissen gearbeitet werden: »Die bereits gedruckten Plakate und Spruchbänder mit der Aufschrift »TuS Nettelstedt Deutscher Meister« mussten umgearbeitet werden. Da musste jetzt doch überall ein »Vize« zwischengeschrieben werden. Maler Reinhard Hülsmeier musste das schnell erledigen. . .« Auch die Bäcker mussten noch schnell ran: Zuckersüß waren die Torten bereits mit den dann doch etwas voreiligen Meistergrüßen verziert. . .
Ja, an diese historischen Momente in Lübbecke kann sich auch noch ein Anderer erinnern. Achim Hucke, heutiger Abteilungsleiter der Handballer des TuS: »Aber meine Erinnerungen an diesen Tag sind nur vage. Ich war damals ja noch klein. Ganze sechs Lenze zählte ich damals. Aber mit ins Stadion - wir saßen irgendwo ganz oben - musste ich auf jeden Fall. Schließlich spielte mein Vater Helmut ja beim TuS mit.« Und die Kinder damals haben auch trotz der Niederlage gefeiert: »Aber das haben schließlich ja alle getan.« Die Einen fröhlicher als die Anderen. . .

Artikel vom 10.08.2005