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Bibel hat festen
Platz im Koffer

Sonderschau über Russlanddeutsche

Von Manfred Stienecke
(Text und Fotos)
Paderborn (WV). Mehr als 8000 Russlanddeutsche leben in der Stadt Paderborn. Ihrer Kultur und Geschichte sind jetzt gleich mehrere Ausstellungen in Paderborn gewidmet.

Das Historische Museum im Marstall Schloß Neuhaus beleuchtet schwerpunktmäßig die Frage nach der Herkunft der Spätaussiedler, die vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten die ehemaligen russischen Sowjetrepubliken verlassen haben. Die im Wesentlichen mit Objekten aus der Sammlung des Russlanddeutschen Museums in Detmold aufbereitete Sonder-Schau zeichnet die Geschichte der Siedler nach, die seit 1763 dem Aufruf der Zarin Katharina II. folgten und eine neue Existenz in Russland suchten. »Verstatten wir allen Ausländern, in unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen«, hatte die deutschstämmige Zarin ihren Landsleuten versprochen - und die Ausreise mit kostenlosem Landerwerb, einer zehnjährigen Steuerbefreiung sowie Sprach- und Glaubensfreiheit versüßt.
In weiteren Ausstellungssequenzen zeigt Dr. Norbert Börste, der Leiter des Marstallmuseums, die Leistungen der Deutschstämmigen, die bis zum 19. Jahrhundert wesentliche Beiträge zur Modernisierung von Politik und Gesundheitswesen, Wissenschaft und Schulwesen, Landwirtschaft, Handwerk und Industrie geliefert hätten. Als nur einen Beleg der besonderen Wertschätzung Deutschstämmiger durch die russische Bevölkerung verweist die Schau auf die Bezeichnung »Nemec« (russisch »Arzt«) für die Einwanderer aus dem Westen.
Zunehmende Repressionen nach der Oktoberrevolution führten dann zu ersten Ausreisewellen vor allem nach Nord- und Südamerika. Eine Originalurkunde dokumentiert die »Entkulakisierung« (Enteignung) reicher deutscher Bauern seit Ende der zwanziger Jahre. Wie sehr die Deutschstämmigen erst unter der Stalin-Diktatur zu leiden hatten, hat der Künstler Jakob Wedel aus Schwalenberg in eindrucksvoll-realistischen Bronzeplastiken festgehalten, die ebenfalls gezeigt werden.
Den Alltag der Russlanddeutschen in den Weiten des Landes zwischen Ostsee und Schwarzem Meer filtert die Sonderschau in lebensechten Inszenierungen über das Leben der Familien im 19. Jahrhundert. So präsentiert die Ausstellung im Marstall eine typische Küche, ein Kinderzimmer und ein Musikzimmer mit Harmonium und handgeschriebenem Notenheft. Die meisten Ausstattungsteile sind Originale - wie auch der Reisekoffer der Siedler vor 150 Jahren mit Pfanne, Waschbrett und der unverzichtbaren Hausbibel.
Arrangiert wurde die Sonderschau von der Leiterin des Detmolder Museums, der 1997 aus Russland ausgesiedelten Historikerin Dr. Katharina Neufeld (54). Sie trennt sich bis zum 30. Oktober von zahlreichen Exponaten, die ihrem Haus in Detmold nun zunächst fehlen werden. Die Lücken seien jedoch leicht zu schließen, versichert sie. »Wir haben so Vieles im Depot liegen, was wir normalerweise gar nicht zeigen können.«
Zu verdanken ist das Projekt dem Zusammenwirken von Stadt Paderborn, dem Detmolder Museum, der Universität Bielefeld (Dokumentarfilme), der Heimvolkshochschule Oerlinghausen sowie dem Aussiedler-Netzwerk »Monolith« und der Deutsch-Russischen Gesellschaft. Ob die liebevolle und detailreiche Sammlung das Anliegen der beteiligten Ausstellungsmacher befördern kann, Vorurteile und Misstrauen gegenüber den neuen Mitbürgern abzubauen, wird sich erweisen müssen. Manches passt zumindest auf den ersten Blick eben doch in das Klischee einer Volksgruppe, die unter äußerem Druck ein friedliches Idyll zu bewahren suchte. Die Eröffnungsfeier heute Abend um 19 Uhr im Audienzsaal des Schlosses wird da sicher einiges klären.

Artikel vom 15.07.2005