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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Christoph Freimuth


Neulich hat mir meine Armbanduhr einen Streich gespielt. Still und unbemerkt hatte sie immer wieder einen Aussetzer. Wenn man drauf schaute, war alles in Ordnung. Nur die Uhrzeit war völlig falsch. Denn zwischendrin war sie für eine Stunde stehen geblieben und zeigte so die falsche Zeit. Ein paar Mal bin ich darauf reingefallen und entsprechend abgehetzt zum nächsten Termin gekommen. Dann habe ich sie einfach abgelegt. Ein befreiendes Gefühl, nicht immer auf die Uhr zu schauen. Ich kenne einige Leute, die das ganz bewusst zu Beginn ihres Urlaubs tun. Wenigstens im Urlaub wollen sie sich nicht dem Diktat der tickenden Uhr beugen, sondern ihren eigenen Rhythmus leben. Ein Stück Freiheit vom Stunden- und Minutentakt, wo uns die Zeit im Griff hat und uns unter Zeitdruck setzt, und wir uns anstrengen müssen, dass wir hinterher kommen.
Die Uhrzeit, so wie wir sie kennen, ist eine Erfindung der Industrieunternehmen. Zu Beginn der Industrialisierung wollten sie eine genormte Maßeinheit, damit man messen konnte, wie viel die Arbeiter gearbeitet haben. Seitdem haben wir uns an die Aufteilung der Zeit in gleiche Abschnitte von Sekunden, Minuten und Stunden gewöhnt und bringen es mühsam unseren Kindern bei. Unser Zeiterleben ist davon jedoch völlig verschieden. Wir erleben Zeit nicht als etwas gleichmäßig Verrinnendes. Gefüllte Augenblicke erleben wir als äußerst kurz. Überrascht fragen wir: Wo ist nur die Zeit geblieben? Andererseits in leeren, langweiligen Augenblicken scheint die Zeit überhaupt nicht zu verrinnen. Immer wieder schauen wir zur Uhr und die Zeiger haben sich kaum bewegt. Beides erleben wir.
Im Regelfall jedoch haben wir das Gefühl, dass es viel zu wenig Zeit gibt. Immer schneller verrinnt die Zeit und wir fühlen uns gehetzt. Alles muss schnell gehen. Auf der Arbeit sowieso, aber auch in vielen anderen Lebensbereichen. Fertiggerichte, die in spätestens fünf Minuten auf dem Tisch stehen, haben Hochkonjunktur. Und wie oft bin ich noch gar nicht richtig angekommen, da geht es schon weiter.
Inzwischen ist es wissenschaftlich bewiesen, dass viele Zivilisationskrankheiten mit dieser Beschleunigung der Zeit zu tun haben. Darum gibt es einige, die sich um Entschleunigung bemühen. So die Slow-Food-Bewegung, die eine Kultur der Langsamkeit bei der Zubereitung und dem Verspeisen von Nahrung entwickelt, als Gegenmodell zu dem uns allen bekannten Fast Food. Ebenso ist das Buch »Die Entdeckung der Langsamkeit« von Sten Nadolny ein Versuch, sich dem Diktat von Schnelligkeit und Hetze zu entziehen. »Langsam und fehlerlos ist besser als schnell und zum letzen Mal«, sagt sein Romanheld John Franklin, ein englischer Kapitän, der 1845 den Auftrag erhielt, die Nord-West-Passage zu suchen. Sein Buch ist eine Anleitung zum behutsamen Umgang mit der eigenen Zeit. Dafür bringt er die Langsamkeit ins Spiel. Sein Held John Franklin nimmt sich Zeit für die Dinge. Er hat Geduld und kann abwarten. Denn die Dinge brauchen ihre Zeit um zu reifen. Ein guter Wein, ein guter Käse, eine gute Freundschaft sind eben nicht im Akkordtempo zu haben, sondern brauchen Zeit zu reifen, sich zu entwickeln.
Genauso ist es mit unserer Zeit. Gott, der die Zeit in Händen hält, will, dass wir Zeit haben für uns, für andere und für Gott. Er gibt uns Zeit zum Wachsen und Reifen, Zeit für Erfahrungen, Zeit zum Genießen. Unsere Zeit ist geschenkte Zeit, einmalig und darum kostbar. Wir dürfen diese Zeit auskosten. Jede Stunde, jeden Tag in vollen Zügen genießen. Ganz da sein. Nicht schon an anderes, an den nächsten Termin denken. Wir dürfen langsam sein und unseren eigenen Rhythmus leben. Wir dürfen den Dingen Zeit geben, zur Reife zu kommen. »Meine Zeit steht in deinen Händen, nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir«, so heißt es in einem Gebet.
Ich wünsche Ihnen viele solcher gefüllten Augenblicke, wo Zeit da ist und man sich hinterher fragt: Wo ist nur die Zeit geblieben?

Artikel vom 16.07.2005