06.07.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Die Gefangenen beschimpft und geschlagen

Jannek Streber sollte Levern »verteidigen« - Nie einen Schuss auf den Feind abgeben

Stemwede-Levern (weh). Es war ein düsterer Tag in der Geschichte Leverns: Am 4. April 1945 griffen englische Soldaten den Ort an, weil dort ein deutsches Kommando beim Einmarsch der Besatzungstruppen noch Widerstand leistete.

Die deutsche Einheit, überwiegend aus jungen Soldaten unter 20 Jahren bestehend und nur mit Gewehren ausgestattet, konnte den Feind nicht aufhalten.
Dr. Jannek Streber aus Berlin war einer der 17-jährigen, die als Soldat den irrsinnigen Befehl erhielten, Levern zu »verteidigen«. In seiner Serie für die STEMWEDER ZEITUNG schildert er unter dem Titel »Von Aalborg nach Levern« seine Erinnerungen, die er auch in einem Buch veröffentlicht hat. Dr. Streber schreibt im letzten Teil unserer Serie über seinen Gang in die Gefangenschaft.
»Jahrzehnte später sind die Wunden westlich des Rheins und an den Ufern der Maas vernarbt, wiewohl diese Narben immer zu sehen sein werden. Ich glaube nicht, dass sie uns, den Deutschen, je lieben werden. Bei den Menschen zwischen Rhein und Oder bin ich mir nach Lage der Dinge - und wenn ich die Geschichte betrachte - nicht so sicher, dass sie auf diese Liebe großen Wert legten. Vielleicht in hundert Jahren. Vielleicht!
Die Wachsoldaten, die diesen elenden Zug begleiteten, ließen alles geschehen. Die Zehnerreihen gerieten in Unordnung. Wer außen marschierte, wurde geschlagen, mit Fäusten, mit Latten, was ihnen gerade in die Hand gekommen war, wurde bespuckt, beschimpft, mit Wasser begossen. Er wollte in die Mitte und die Mitte wollte nicht nach außen. Wir Jungen nahmen diesen gespenstischen Vorgang rechts und links der Kolonne fassungslos in uns auf. Wir klammerten uns aneinander, um ja nicht nach außen zu geraten. Was hatten wir ihnen getan? Wir? Mir kam Vsetin wieder in den Sinn. Ihnen wurde Schlimmes angetan.
Das alles fand auf dem Areal von Waterloo statt. Waterloo? Aufgemerkt, Ihr Spätergeborenen, dieser Platz gehört in die Geschichte. Ihr kennt ihn sicher. Napoleon gegen die Heilige Allianz, die beinahe nicht gesiegt hätte, wenn die Preußen mit Blücher nicht gekommen wären. Geschichte ist an sich immer lehrreich. Jetzt traten wieder Preußen auf dem historischen Feld auf. Sie kamen nicht geritten, sie waren nicht gerufen worden. Sie waren keine Sieger. Sie hatten nichts aus ihrer Geschichte gelernt.
In dem Camp, in das man uns trieb, blieben wir ungefähr bis Mitte Oktober, untergebracht in Rundzelten, einen Meter eingegraben. Die Erinnerung an den Empfang, an diesen deutschen Bußgang der neuesten Geschichte, hing noch lange Zeit über dem Camp. Die Frage, wer denn nun Schuld sei an Situation, in der wir steckten, schlich sich tausendfach zwischen die Zelte, war über Wochen hinweg anwesend.
An die tausend Antworten, die darauf gegeben worden sind, erinnere ich mich nicht mehr. Von uns Jungen fühlte sich keiner schuldig. Wie sollten wir auch? Ich habe keinen einzigen Schuss auf einen Menschen abgegeben. Was wir im Aalborger Hafen nächtens auf Wache an Schüssen abgegeben hatten, über den Fjord hinaus, klatschte alles ins Wasser.
Und meinen Vater, meine Mutter nahm ich nach all dem, was ich von ihnen wusste, ebenfalls von jeglicher Schuld aus. Aber wer war es? Erst nach der Entlassung aus der Gefangenschaft habe ich Schritt um Schritt begriffen, wer es wirklich war. Das heißt genauer: Das Rätsel, warum wer Kriege vorbereitet, anzettelt und beginnt. Am Ende des Lebens zeigte sich dann, dass dieses Wissen allein bei weitem nicht ausreicht, um Kriege zu verhindern. Aber das ist ein ganz anderes Kapitel.«

Artikel vom 06.07.2005