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»Wir haben noch nicht fertig«

Wolfgang Thierses Worte wirken wie Balsam auf der sozialdemokratischen Seele

Gütersloh (mdel). Bundestagspräsident Wolfgang Thierse wirkte beim SPD-Kreisparteitag am Samstag wie ein Prediger. Wie ein Mann, der gekommen war, um der von der herben Wahlschlappe in NRW verunsicherten Basis Mut und Zuversicht zuzusprechen.

Auf die 100 Delegierten im kleinen Saal der Stadthalle wirkten Thierses Worte wie Balsam auf der Seele. Sie feierten »ihren« Bundestagspräsidenten mit lang anhaltendem Applaus. »Die Umfragen sind schlecht. Die CDU platzt vor Übermut. Wir sollten selbstbewusst und selbstkritisch sein«, meinte der 61-Jährige. Die SPD sei die soziale Kraft in Deutschland. »Unser Angebot ist ein Gesellschaftsvertrag. Ein Vertrag mit den Bürgern.«
Thierse verheimlichte nicht, dass die Herbeiführung von Neuwahlen durch den Kanzler bei ihm anfangs auf wenig Gegenliebe stieß. Er erinnerte an die NRW-Landtagswahl. »Als mich Franz Müntefering nachmittags anrief und mich von den Plänen unterrichtete, habe ich gesagt: ÝDu bist verrückt. Das ist ganz falsch.Ü« Die Aussicht auf die kommenden 15 Monate habe seine Meinung geändert. Die Regierung habe vor der Wahl gestanden, wegen der Bundesratsmehrheit der CDU 15 Monate lang Lähmung von Politik zu erleben. »Ist es nicht eine Erniedrigung, wenn man nichts ausrichten kann?«, fragte Thierse, »wie wäre es uns bekommen?« Die vergangenen vier Wochen hätten bereits einen Vorgeschmack auf das gegeben, was auf die SPD zugerollt wäre. »In allen Blättern wurde das Sterbeglöcklein geschlagen. Können Sie sich das 15 Monate lang vorstellen? Keine schöne Aussichten.« Hinzu komme der innerparteiliche Streit. Die bitteren Wahlniederlagen seien in Form von gegenseitigen Schuldzuweisungen verarbeitet worden.
Um Neuwahlen zu erreichen, müsse man durch das Nadelöhr des Artikels 68 des Grundgesetzes gehen. Der Kanzler habe den öffentlichen Nachweis erbringen müssen, dass er kein Vertrauen mehr hat. »Das führte dazu, dass der Ball wieder in unserer Hälfte lag. Ich habe dem Kanzler gesagt: ÝGerhard, das ist ein Drahtseilakt.Ü Ich denke aber, er hat es richtig gemacht.«
Der stellvertretende Parteivorsitzende warb um Selbstbewusstsein. Die Genossen müssten bedenken, was in den vergangenen sieben Jahren geleistet worden sei. Man habe die größte Sozialreform in der Geschichte Deutschlands auf den Weg gebracht, die Außenpolitik neu ausgerichtet, mehr Geld für Bildung und Forschung sowie für die Familien zur Verfügung gestellt. »Manchmal hat man den Eindruck, Sozialdemokraten sind vergesslicher als andere Menschen. Wir haben noch nicht fertig«, ermunterte Wolfgang Thierse die SPD-Delegierten, vor der Bundestagswahl für die Partei zu kämpfen.

Artikel vom 04.07.2005