04.07.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Klümpchen« zur Belohnung

Berliner lernte bei Bäcker Krüger in Herford, Berliner zu backen

Von Peter Schelberg (Text)
und Jörn Hannemann (Foto)
Herford (HK). Zusammen mit 18 anderen Kindern aus der vom Krieg verwüsteten ehemaligen Reichshauptstadt Berlin stand er noch etwas unsicher und verloren auf dem Herforder Bahnhofsvorplatz. Damals, an einem Augusttag 1955. Inzwischen schnuppert Sepp Göritz seit 50 Jahren regelmäßig »Herforder Luft« - als Gast und Freund der Familie Krüger, die in der Rennstraße 47 eine Bäckerei betrieb. Am vergangenen Wochenende wurden alte Erinnerungen wieder aufgefrischt.

In der Nachkriegszeit wollten der damalige Obermeister Ewald Krüger und seine Kollegen von der Herforder Bäckerinnung Berliner Kinder für eine Weile aus den Trümmern der Großstadt holen, um ihnen eine Freude zu bereiten: Kurz entschlossen luden sie zum Ferienaufenthalt ins ländliche Ostwestfalen ein. So kam auch der kleine Sepp nach Herford, wo er in der Bäckerei von Ewald und Alwine Krüger herzlich aufgenommen wurde. »Von den eingeladenen Kindern waren die Herforder gleich begeistert«, berichtet der Sohn des Obermeisters, Hans-Dieter Krüger: »Wahrscheinlich, weil die Berliner viel spontaner sind als die Westfalen.« Auch Sepp, der zuhause mit acht Geschwistern aufwuchs, weiß noch: »Die wollten mich gleich adoptieren. Aber ich hatte Heimweh.« Das legte sich bald. Um 4 Uhr morgens war bei Krügers die Nacht vorbei: Sepp half begeistert mit in der Backstube, wo der Berliner sogar lernte, seine ersten »Berliner« zu backen: »Bei uns heißen die allerdings Pfannkuchen. Und damals war das noch richtige Handarbeit.«
Frühmorgens war der flinke Junge mit dem Fahrrad in der Innenstadt unterwegs, um Brötchen zu verteilen. Die Ferien in Herford hatten für den schmalen Steppke einen Nebeneffekt: »In vier Wochen habe ich acht Kilo zugenommen.« Dazu beigetragen haben sicherlich die leckere Obsttorte von »Oma Wine« oder die Schillerlocken mit Sahne, wie er einräumt: »Nur die Brotsuppe fand ich nicht so gut.« Schmunzelnd erinnert er sich an Raufereien mit dem »Junior« Hans-Dieter Krüger - heute 73 Jahre alt und sein bester Kumpel: »Von ihm gab's schon mal Senge.«
Wenn er im Verkaufswagen des benachbarten Fischhändlers Clapier mitfuhr und half, bekam der sympathische Sepp »Klümpchen«: »Das Wort kannte ich gar nicht - zum Glück hat mir jemand erklärt, dass die Bonbons hier so genannt werden.« Etwas »schockiert« war Sepp nach dem ersten Kinobesuch in Herford: »Als wir aus der Abendvorstellung kamen, war in der Stadt alles dunkel, kein Mensch auf den Straßen - das war in Berlin natürlich ganz anders.«
Zwei Jahre nach dem »Einstieg« in Herford begann er in Berlin selbst eine Lehre als Bäcker. Bis zu sieben Mal jährlich besuchte Sepp Göritz seither »Opa Ewald« und »Oma Wine« sowie Hans-Dieter und Inge Krüger, die ihrerseits zu Gegenbesuchen nach Berlin reisten. Mit Fahrrad und Motorrad erkundete Sepp die Schönheiten des Ravensberger Hügellandes und der Region: »So ist Herford für mich ein Vorort von Berlin geworden.« Sogar die Hochzeitsreise mit Ehefrau Gisela endete in Herford: »Wir wollten zwar zum Königssee, sind aber hier hängengeblieben...«
Familienfeste feiert der gebürtige Neu-Köllner noch heute - wenn möglich - gemeinsam mit seinem Freund Hans-Dieter Krüger, der als Bäckermeister früher die Anstaltsbäckerei der Herforder Justizvollzugsanstalt leitete: »Er ist für mich sozusagen mein großer Bruder.«

Artikel vom 04.07.2005