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Winterreise
im Sommer

Schubert für Kenner

Von Gerd Büntzly
Herford (HK). Im Rahmen der Aulakonzerte an der Hochschule für Kirchenmusik sang der Bassbariton Martin Backhaus, am Klavier begleitet von Vida Kalojanova, den Liederzyklus »Die Winterreise« von Franz Schubert.

Schuberts »Winterreise« hat nur oberflächlich etwas mit dem Winter zu tun. Ihr Thema ist die Verzweiflung eines zu Fuß reisenden Handwerksgesellen, der um eine verlorene Liebe trauert; im Grunde ist diese Sammlung von 24 Liedern aber eine Meditation über die Kälte in den menschlichen Beziehungen. Früher galten diese Lieder als rau und schwer vermittelbar; heute gehören sie wohl zu den am häufigsten aufgeführten Werken Schuberts.
Martin Backhaus besitzt eine sehr warme, obertonreiche Stimme, mit der er die Depression und Trauer, die in den Liedern anklang, ergreifend zu gestalten wusste. Niemals wirkt sein Gesang angestrengt. Allerdings fragt man sich, ob Schuberts Lieder wirklich nur »schön« gesungen werden sollen. Gelegentlich würde man sich ein wenig mehr Temperament wünschen, denn die Texte von Wilhelm Müller sind manchmal höchst sarkastisch; und Schuberts Melodien lassen die Stimmung zwischen Resignation und Aufschrei abwechseln. In Liedern wie »Auf dem Flusse« oder »Einsamkeit« fehlte dem Interpreten der Wille, im Ausdruck bis an die äußersten Grenzen zu gehen.
Eine absolut verlässliche Begleiterin war Vida Kalojanova. Man hört im Klavier deutlich die gefrorenen Tropfen zu Boden fallen, die letzten Blätter der Bäume zittern und im Winde schwanken. Vida Kalojanova scheute sich nicht vor Risiken in den gelegentlich äußerst schweren Sätzen und meisterte sie souverän.
Das letzte Lied, »Der Leiermann«, gilt allgemein als der Gipfel all des Wahnsinns und der Verzweiflung: »Barfuß auf dem Eise schwankt er hin und her«. Und doch eröffnet es einen Ausweg: Der Leiermann ist überhaupt die erste menschliche Person, die dem Protagonisten in den Blick gerät. Und er überlegt sich: »Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehen?« Vielleicht ist das die entscheidende Botschaft nach all dem Irrsinn.

Artikel vom 24.06.2005