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Die Abgründe der Kindheit

»Wege durch das Land« macht auf Gut Holzhausen Station

Von Wolfgang Braun
Kreis Höxter/Holzhausen (WB). Kindheit - in Nigeria und hierzulande - war der rote Faden, der sich durch viele Texte bei den Lesungen im Schafstall des Gutes Holzhausen zog, wo das OWL-Literatur-und-Musik-Festival »Wege durch das Land« Station machte.

Mit dem nigerianischen Schriftsteller Wole Soyinka (70) hatte die künstlerische Leiterin des Festivals, Dr. Brigitte Labs-Ehlert, einen Autor engagieren können, der als erster Schriftsteller des schwarzen Kontinents 1986 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie würdigte ihn als einen »Weltbürger, der gegen Indoktrination und Vereinnahmung in jeder Form« kämpft.
Soyinka, der Ende der sechziger Jahre wegen seines politischen Engagements 28 Monate in Einzelhaft gesperrt worden war, lebt derzeit in Kalifornien und hat einen Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft in Atlanta inne. Er hatte in London studiert, wo er erste Erfolge als Bühnenautor, Schauspieler und Regisseur feierte.
Soyinka wählte unter anderem Passagen aus seinen Kindheitserinnerungen »Aké - Jahre der Kindheit« aus, dem 1981 geschriebenen Werk, für das er den Nobelpreis erhalten hatte. Er las auf Englisch, sein jahrzehntelanger Freund und Übersetzer Gert Meuer trug andere Text auf Deutsch vor, um Doppelungen zu vermeiden. Soyinka hatte aus »Aké« eine Passage ausgewählt, in der er beschreibt, wie sich in seiner Heimatstadt Abeokuta in Westen von Nigeria - bis 1960 war das Land eine britische Kolonie - die Hitlerangst breit machte. Verursacht wurde sie durch Lautsprecher, die die Kolonialmacht in jedem Haus hatte installieren lassen und die den britischen Sender BBC übertrugen. Schauplatz dieser mit viel genauem Beobachtungsvermögen und ausgeprägtem Sinn für Atmosphäre geschilderten Szenen ist dabei auch er Laden seiner Mutter. Der Zusammenprall der Kulturen wird offenbar, als dort das Stadtoriginal Pa Adatan seine Überlegenheit über Hitler in einem Kriegstanz dokumentiert.
In einem Text aus seinem neuesten Buch »Klimata der Angst« geißelt der Nobelpreisträger, der neben literarischen Texten auch durch philosophische hervorgetreten ist, den Fanatismus als Quelle des Fundamentalismus - wie er heute ganz besonders bei den Muslimen, aber auch »in den Südstaaten der USA«, so Soyinka, zu beobachten sei. Fanatismus entstehe aber in erster Linie im Einflussbereich von Religionen und es sei deren Pflicht ihn zu zügeln und ihn zu bändigen.
Prosaskizzen von Peter Hille (»Banger Traum«, »De profundis«), der auf Gut Holzhausen seine Kindheit verbracht hatte, las der bekannte Schauspieler Heikko Deutschmann nach der Pause. Er ging intensiv auf die recht unbekannten Texte ein, las fragend, spürte beim Lesen der Bedeutung der Worte nach, schmeckte sie regelrecht: »Das soll Kindererde sein, Heimat. Mehr als die besondere Heimat. Die Besuchsheimat. Meines Vaters Dorf.«
Der beliebte Schauspieler zeigte hier die ganze Palette seines Könnens: In seiner Ausstrahlung viel beeindruckender als in den Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen, in denen er zu sehen war, lotete er hier vor allem in den Kindheitsschilderungen des leider etwas in Vergessenheit geratenen Rolf Dieter Brinkmann (1940 bis 1975) seelische Untiefen aus.
Deutschmann machte in »Früher Mondaufgang« die Erlebnisse, in die eine Gruppe Jungs auf einem verwilderten Grundstück verstrickt sind, fast szenisch erlebbar: Für die Elfjährigen ist nach diesem Sommer auf den verwilderten Grundstück mit seinen Geheimnissen gewissermaßen die Kindheit vorbei, denn neben der Sexualität lernen sie den gnadenlosen Griff des Todes kennen.
Im musikalischen Teil des Programms faszinierten Michael Riessler und das Kölner Philharmonische Quartett durch Klangexperimente, die als Fortspinnen seiner Musik zu Edgar Reitz' Film »Heimat 3« aufzufassen sind: »Ich will Unbekanntes hören, etwas aus der Luft greifen und zusammenfügen, und mich dabei immer wieder selbst überraschen«, sagt Riessler ... und man glaubt es ihm gerne.

Artikel vom 23.06.2005