27.06.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Erdbeerbowle im Biotop

Engagement hin oder her - der Star ist und bleibt die Naturbühne

Arnold Stadler hat ja keine Ahnung. Der Georg-Büchner-Preis-Träger behauptet nämlich: »Eigene Lektüre ist durch nichts zu ersetzen.« Das stimmt aber nicht. Mit einem Glas Erdbeerbowle im Naturschutzgebiet liegen und einem Büchner-Preis-Träger zuhören - das ist durch nichts zu ersetzen.

Die Naturbühne war wieder der Star des Literaturfestes Poetische Quellen, des fünften bereits auf dem Gartenschaugelände in Bad Oeynhausen und Löhne. Das wurde um so deutlicher, als dieser Star am Samstag gesperrt war - zunächst wegen Regens pünktlich ab 14.30 Uhr und abends dann, weil Leoluca Orlandos Sicherheitspersonal wohl einen Herzanfall bekommen hätte, wenn es den Mafiakritiker auf offenem Feld hätte beschützen sollen.
Sprengstoffsuche, mobile Polizeiwache, Männer mit finsterem Blick und Knopf im Ohr, viel Gesellschaftskritik und Ärger um den Auftritt von Michael Friedmann schon im Vorfeld. Diese Poetischen Quellen sind ihrem Schwerpunktthema Literatur und Engagement vollauf gerecht geworden.
Mit welchem Autoren er sich diesmal einen Wunsch erfüllt habe, sollte der künstlerische Leiter Michael Scholz sagen. »Genau mit dieser Mischung«, hat er geantwortet. In der Tat war die Mischung gelungen: Orlando und Juri Andruchowytsch für den Glauben, dass der Wille Berge versetzen kann. Peter Bieri für die Besinnung auf die Freiheit, die wir geschenkt bekommen haben. Und der Schweizer Christian Uetz für die Erkenntnis, dass Lyriker richtig kernige Burschen sein können.
Nein, nicht alle Künstler habe er vorher auf der Bühne erlebt, hat Michael Scholz gesagt. Was Thomas Stangl angeht, muss den in dieser Form allerdings überhaupt niemand erleben. Der Aspekte-Literaturpreis-Träger des Jahres 2004 lieferte eine solch unterirdische Vorstellung ab, dass einem die Buchhändlerin Leid tat, die ihn zugelost bekommen hatte.
Was für ein Glück ist dagegen Moderator Jürgen Keimer. Ob dem Künstler etwas nicht passt (Terézia Mora), ob er die Fragen nicht verstehen will (Silke Scheuermann) oder lieber Monologe hält (Orlando) - Keimer bleibt ruhig. Mal fragt er naiv, mal tückisch, aber immer im Sinne des Publikums. So entgeht ihm auch nicht, dass das Sonntagsgespräch inhaltlich nach links kippte. Das konnte auch er nicht ausbalancieren.
Wie Michael Scholz erzählte, hätte am Sonntagmorgen noch Heiner Geißler auf dem Podium sitzen sollen. »Aber wer weiß, ob dessen Position so viel anders gewesen wäre?«, fragt Scholz. Ja, wer weiß das eigentlich? Denn Schubladendenken ist dumm. Das haben wir am Sonntagnachmittag von Michael Schindhelm gelernt. Der Theaterintendant und Romanschriftsteller hat an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin mal mit Angela Merkel studiert. Frage: »Hätten Sie sich vorstellen können, dass sie mal Kanzlerin wird?« Antwort: »Ich hätte mir nicht mal vorstellen können, dass sie Politikerin wird.«
Thomas Hochstätter

Artikel vom 27.06.2005