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 Von Stefan Küppers

Haller
Aspekte

Entgleiste Verantwortlichkeiten


Wahrheit und Gerechtigkeit, das sollten die vornehmsten Ziele von Rechtssprechung sein, die ja »im Namen des Volkes« ausgeübt wird. Wie mag der unglückliche Lokführer darüber denken, der für seine schwersten Verletzungen, die er beim großen Zugunglück mit dem »Haller Willem« vor zweieinhalb Jahren erlitt, ein Schmerzensgeld vor Gericht erstreiten muss? Wie der erste Prozesstermin in dieser Zivilstreitigkeit am Donnerstag dieser Woche vor dem Landgericht Bielefeld zeigte, ist der dreifache Familienvater, der aufgrund seiner äußeren (Fußamputation) und inneren Verletzungen bereits mit 43 Jahren frühpensioniert werden musste, in üble juristische Fallstricke geraten.
Die gegnerische Versicherung, die den Fahrer des Lkw vertritt, in den der »Haller Willem« am 7. November 2002 auf dem unbeschrankten Bahnübergang Holtfelder Straße hinein gekracht war, argumentiert vor Gericht mit einem »gestörten Gesamtschuldverhältnis«. Soll heißen: Dass es überhaupt zu diesem Unglück kommen konnte, daran tragen auch andere als der Lkw-Fahrer erhebliche Mitverantwortung. Dieser Argumentation zufolge wäre da die Polizei, die den Lkw-Fahrer morgens ohne Begleitung die restlichen 300 Meter zur Storck-Baustelle fahren ließ. Weiterhin wäre da die Stadt Halle, die die Sichtbehinderungen am Bahnübergang nicht beseitigt habe. Und da wäre die Bahn selbst, die wegen der Sicherheitsmängel am Übergang dort nicht schneller als 20 km/h hätte fahren lassen dürfen, wodurch der Unfall womöglich verhindert worden wäre.
All dies und mehr wird ins Feld geführt, um möglichst nichts oder wenig von diesem Unglück mit Millionenschaden bezahlen zu müssen. Interessanterweise haben sich die Gutachter der Bahn und der gegnerischen Versicherung bis heute nicht auf eine tatsächliche Schadenssumme einigen können. Die vom Lokführer geforderten 75 000 Euro Schmerzensgeld machen da jedenfalls nur den kleineren Teil aus. Das Fatale für ihn: Jedes Prozent Verantwortung, das aufgrund obiger Argumente vom Lkw-Fahrer (und seiner Versicherung) eventuell genommen wird, verringert das Schmerzensgeld. Wohlgemerkt, ohne dass beispielsweise die Bahn als sein Dienstherr dafür einspringen müsste.
Der Lokführer aber ist unschuldig in dieses »gestörte Gesamtschuldverhältnis« hineingeraten. Und der Familienvater mag sich wie in einem Bahnhof entgleister Verantwortlichkeiten fühlen. Hoffentlich gewinnt der unglückliche Mann nach dem Richterspruch das Gefühl, dass es »im Namen des Volkes« auch Gerechtigkeit gibt.

Artikel vom 18.06.2005