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Kompanie ist bereits in
erbärmlichem Zustand

Jannek Streber musste als 17-Jähriger Levern verteidigen

Levern (WB). Es war ein düsterer Tag in der Geschichte Leverns: Am 4. April 1945 griffen englische Soldaten den Ort an, weil dort ein deutsches Kommando beim Einmarsch der Besatzungstruppen noch Widerstand leistete.
Jannek Streber als 17-Jähriger. Er musste Levern »verteidigen«.

Die deutsche Einheit, überwiegend aus jungen Soldaten unter 20 Jahren bestehend und nur mit Gewehren ausgestattet, konnte den drückend überlegenen Feind nicht aufhalten. Am Ende des Tages gab es zehn Tote unter der Zivilbevölkerung Leverns und unter den deutschen Soldaten. Mehr als 50 Leverner Häuser wurden getroffen, von denen ein Großteil total abbrannte.
Dr. Jannek Streber aus Berlin war einer der 17-jährigen, die als Soldat den irrsinnigen Befehl erhielten, Levern zu »verteidigen«. Bis heute lassen den Berliner die schrecklichen Stunden nicht los. In seiner Serie für die STEMWEDER ZEITUNG schildert er unter dem Titel »Von Aalborg nach Levern« seine Erinnerungen, die er auch im »Jannek Streber: Zwischen Auflehnung und Aufbruch« festgehalten hat. Dr. Streber schreibt:
»Plötzlich fragte in Lübbecke einer der Bewohner in unsere Gruppe hinein, ob wir nicht Schluss machen wollten. Wir könnten bei ihnen unterkommen, uns verstecken, mit Zivilkleidung versehen werden und der Krieg wäre für uns vorbei. Sie redeten auf uns ein, die alten Männer, die Frauen, da waren noch ein paar Mädels in unserem Alter dabei.
Ich spürte, nicht direkt, aber doch irgendwie die große Verführung, die über den Zaun ausstrahlte. Wir wurden recht still. Aber da hing vor mir dieser graue Soldat dort hinten an dem Mast auf dem Bahngelände. Vielleicht hing dieses Bild auch vor den anderen. Plötzlich war auch der Spieß da, wahrscheinlich unruhig geworden, dass es in unserer Gegend so still geworden war.
Die leise aufgekommenen Zweifel an den Ausgang unseres militärischen Unternehmens, die ersten schwachen Gedanken daran, ob es nicht vielleicht besser wäre, hier, jeder für sich selbst, den Krieg zu beenden, der in den nächsten Tagen oder Wochen doch zu Ende sein wird, behütet von diesen freundlichen Menschen, die bereits die Gartentür mit einladender Geste geöffnet hatten - all das war in dem Moment weggeblasen und die Ansammlung der friedlichen Bürger und der Jungen in Uniform löste sich mir nichts dir nichts auf, als hätte es sie nie gegeben.
Der Abmarsch war für die Nacht befohlen. In der Nacht vom 3. zum 4. April marschierten wir los, mit vollem Gepäck. Ein Nachtmarsch, ein Gewaltmarsch, er ging über 20 Kilometer. In der Ferne grummelte es. Also hatten die in Lübbecke recht, dass gleich hinter den nächsten Dörfern etwas passieren werde.
Uns, die wir hier übermüdet durch die dunkle Nacht stampften, wäre es schon recht gewesen, wenn die Dörfer, hinter denen es passieren sollte, nicht gar so weit liegen würden. Die Morgendämmerung zog auf, als wir in Levern den Gasthof belegten, unsere Rucksä-cke auf dem Dachboden unterbrachten und bereits auf dem Fußboden fielen, um einfach einzuschlafen. Daraus wurde nichts. Antreten auf der Straße vor dem Gasthaus.
Solche Befehle wurden immer in der vom jeweiligen Anlass geforderten Lautstärke gegeben. So auch dieser, der uns, die wir bereits Rucksack und Waffen abgeworfen und uns nun auf dem Fußboden lang gestreckt hatten, ins Bewusstsein stieß, dass wir eigentlich zum Kriegführen in diesen Ort gekommen waren. Die Nacht durchmarschiert, wollte ich nichts wie schlafen, nur schlafen. In solchen Situationen ist ein solcher Befehl das Eine, seine Ausführung sehr oft etwas ganz anderes.
Es dauerte also, ehe die Masse von einhundert übermüdeten Siebzehnjährigen sich von ihren Rucksäcken erhob und die enge Bodentreppe hinunter zwängte. Ich war nie der erste beim Aufstehen - wer könnte davon nicht ein Liedchen singen - und so muss ich während des Gedränges auf Boden und Treppe ganz kurz wieder eingeduselt sein, bis mich ein Fußtritt endgültig hoch brachte.
Außer mir und noch drei anderen war keiner mehr hier oben. Ich sah durch das Dachfenster. Unten herrschte zwar noch ein wenig hin und her, aber die Kompanie war angetreten. Sechs Stunden später stand ich wieder vor dem Dachfenster und sah hinunter. Wieder stand die Kompanie auf der Straße. Aber in welchem Zustand? Zerzaust, verdreckt, verängstigt-stoisch, ohne Waffen, bewacht von einer Handvoll khaki-uniformierter Soldaten mit der MP im Anschlag. Und am Straßenrand aufgebrachte Einwohner.«

Artikel vom 15.06.2005