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Intime Aussagen der Fiktion

Lesung von Urs Widmer beendet den Literatursommer

Gütersloh (kh). Über reges Interesse konnten sich am Samstag Abend die Organisatoren des Literatursommers der Stadtbibliothek freuen. Rund 100 Besucher fanden sich zu einer Lesung des Schriftstellers Urs Widmer ein, der einen Auszug aus seinem aktuellen Werk »Buch des Vaters« vortrug. Moderiert wurde die zweistündige Veranstaltung von dem Journalisten Jürgen Keimer. Die Lesung war zugleich der Abschluss des Literatursommers.

Urs Widmer, der mit seinem sympathischen und gestenreichen Vortrag das Publikum leicht mitriss, wählte für seine Lesung ein Stück vom Anfang des Buches. Hier beschreibt er den Weg des 12-jährigen Vaters von der Stadt in das Dorf, in dem sein Onkel wohnt. Jeder Bewohner hat dort seinen eigenen Sarg vor dem Haus stehen. In einer etwas skurrilen Zeremonie wird dem Protagonisten das weiße Buch überreicht. Das weiße Buch ist ein Buch voller leerer Seiten, das jeder Bewohner erhält, und in das dieser bis zu seinem Tod jeden seiner Tage aufschreibt. Erst nach dem Tod wird das Buch von den anderen Bewohnern gelesen.
Widmer erzählt heiter und charmant die Erlebnisse seines Protagonisten aus der Sicht des Sohnes, der das nach dem Tod des Vaters verloren gegangene Buch, neu schreibt. Dabei bedient er sich einer bildhaften Sprache und bringt dem Leser auch die Einzelheiten der Natur, im Dorf oder die persönlichen Merkmale der Menschen, auf die der Vater trifft, eindrucksvoll und detailreich näher.
Das »Buch des Vaters« ist als Gegenstück zum vorherigen Roman »Der Geliebte der Mutter« zu verstehen. »Nach dem Buch über die Mutter, in dem der Vater so gut wie nicht vorkam, dachte ich, mein Vater sieht aus wie ein Depp. Aber er war kein Depp«, erklärte der Autor aus der Schweiz die Beweggründe für das Buch über den Vater. Es sei dann aber auch faszinierend gewesen, die Geschichte von der anderen Seite her zu erzählen. Mit dem Roman habe er seinem Vater, der seit mehr als 40 Jahren tot ist, ein neues Leben geschenkt. Dies sei ein regelrechter Genuss gewesen.
Das »weiße Buch« gebe es so zwar nicht und sei ein Mythos, aber er habe versucht mit den Mitteln der Fiktion nah an der Realität zu bleiben. Auf die Frage von Jürgen Keimer, ob es denn ein Tagebuch des Vaters gegeben habe, das verloren gegangen sei, wich der 67-jährige Schriftsteller aus. Man solle nicht nach der Wahrheit hinter dem Buch fragen, das Buch sei die Wahrheit. In der Fiktion lägen die intimen Aussagen, daher wolle er die Geschichte dahinter nicht erzählen.

Artikel vom 14.06.2005