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Ipsen nickte düster. »Ich werde mit jedem einzelnen Nordmarscher reden. Unter vier Augen sind sie alle viel verständiger, als wenn Tete Friedrichsen dabei ist. Er ist wie ein Bulle, der seine Kuhherde wild macht.«
»Ochse«, verbesserte Hansen grimmig.
Der Ratmann grinste. »Es hat sich herumgesprochen, dass du nicht der große Kenner von Tieren bist, aber in diesem Fall gebe ich dir Recht.«
»Noch eins.« Hansen wurde wieder ernst. »Du wolltest den Clement nicht mit der Nase auf die Vermutung der Polizei stoßen. Gut, das ist deine Sache. Aber was ich herausgefunden habe, darfst du auf keinen Fall weitergeben!«
»Aber jetzt haben wir doch erstmals etwas in der Hand«, widersprach Ipsen verwundert. »Und wenn man Clement alles ordentlich erklärt É«
»Nein, Mumme Ipsen«, sagte Hansen fest, »erkläre nichts. Noch wissen wir nicht genug. Diese Geschichte ist vielleicht von größerer Tragweite, als wir dachten. Verrate auch niemandem auf der Hallig etwas. Du weißt nichts, fertig.«
»In dieser Angelegenheit bist du der Ratmann. Ich schweige«, versprach Ipsen feierlich und reichte Hansen die Hand. »Ich glaube, darauf sollten wir einen zur Brust nehmen.«
Im engen Gang zwischen Ipsens Haus und dem benachbarten kamen Hansen drei Gänse halb im Eilmarsch, halb im Flug entgegen. »Fort mit euch!«, rief die junge Frau, die sie mit wedelnden Armen vor sich herscheuchte. »Ihr habt in Lenes Küchengarten nichts zu suchen, und das wisst ihr genau!«
Hansen trat beiseite. Erfreut erkannte er Jorke und winkte ihr zu.
»Oh, du bist es, Sönke«, sagte sie herzlich. »Ich wusste gar nicht, dass du noch auf der Hallig bist.«
»Ich war auf Hooge und bin jetzt wieder zurück. Um morgen abzureisen«, antwortete er und fühlte sich seltsam befangen.
»Schade. Ich wollte dich zum Tee einladen. Oder hättest du jetzt gleich Lust?«
Zeit, verbesserte er in Gedanken. Zeit hätte er. Über anderes wollte er nicht nachdenken. Er nickte.
»Übrigens, ich bin Jorke Payens.« Sie reichte Hansen die Hand, die sich gut und warm anfühlte.
Überhaupt tat ihre Gegenwart ihm irgendwie wohl. »Ich weiß. Du wohnst hier auf der Warf«, sagte er, um irgendetwas zu sagen, als er ihr folgte.
»Ja, ich führe meine eigene Wirtschaft«, sagte Jorke stolz und deutete über den Fething in der Mitte der Warf hinweg auf einen stattlichen Hof.
Er erinnerte sich, dass Lehrer Boysen so etwas angedeutet hatte. Aber hatte er sie wirklich richtig verstanden? Ihm schwindelte noch etwas von den Schnäpsen. »Du wirtschaftest ganz allein?«
»Vater und Mutter sind tot«, sagte Jorke einfach, »und meine beiden Brüder fahren zur See.«
»Jorke, sag mal, was für Tiere hast du?« Hansens Gedanken gingen ein wenig durcheinander, wie er selbst merkte. Aber schließlich war auch der Mensch ein Tier. Er blieb stehen und hielt sich am Ast eines Pflaumenbaums fest, obwohl der sich als stachelig erwies.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Jorke und kam zu ihm zurück. »Klaren getrunken?«
»Stimmt«, gab Hansen zu. »Sag mir, was für Tiere du hast. Es ist wichtig.«
»Hühner, Gänse, Kühe, Kälber, eine Sau mit Ferkeln«, antwortete Jorke kurz und bündig.
»Hast du schon mal erlebt, dass sie in Ringen und Sprenkeln bluten?«
»In Ringen???«
Hansen hockte sich hin und malte kirschkerngroße Ringe auf die Erde, so wie er es im Schutzraum der Bake gesehen hatte. »So, und der Rand besteht aus Blut.«
Jorke schwieg. Hansen war drauf und dran, alles fortzuwischen, weil er sich darüber ärgerte, sich lächerlich gemacht zu haben.
Sie hielt seine Hand fest. »Warte. Mir fällt etwas ein. Mumme hat mal eine meiner Kühe erschossen, die tollwütig geworden war. Wir konnten sie nicht einfangen. Sie starb aber nicht sofort, sondern ging in die Vorderknie und hustete Blut. Schaumiges Blut. Als ich später mit zwei kräftigen Nachbarn zurückkam, die den Kadaver begraben sollten É«
»Schaum«, unterbrach Hansen sie. »Der Stich in die Lunge! Das war es!«
»Ich glaube, es war Schrot für die Entenjagd«, murmelte Jorke verdattert.
»Du hast Recht, du bist ein Schatz!« Hansen küsste sie mitten auf den Mund, sprang auf und zog Jorke an der Hand hoch.

»Danke! Du hast ein Rätsel für mich gelöst.« Hansen sah ihr tief in die Augen.
»Ich fürchtete schon, du wärst etwas sonderbar.« Jorke betrachtete ihn reserviert, um gleich darauf lachend den Kopf zu schütteln. »Der Schnaps!«
»Es waren nur zwei.«
»Das stimmt nicht. Auf zwei Beinen kann man auf der Hallig nicht stehen«, widersprach Jorke. »Das weiß ich besser als du.«
»Drei dann É«
»Mindestens.«
»Du trinkst wohl auch nicht nur Tee?«
»Nein. Ich bin so frei wie zur Walfängerzeit alle Frauen«, sagte sie stolz und zog Sönke fröhlich hinter sich her.
»Friesische Frauen waren immer selbständig«, stimmte Hansen zu. »Wie Däninnen.«
Jorke hielt in ihrem Sturmschritt am Fethingrand entlang ein und drehte sich zu Hansen um. Die feinen blonden Haare wirbelten um ihre Stirn. »Ich hatte vergessen, dass du auch Friese bist. Dir muss ich das ja nicht erklären.«
»Musst du das denn sonst immer?«, fragte Hansen, während er einen kleinen Jungen beobachtete, der jenseits des Fethings einen Soodschwengel bediente. Offenbar füllte er den Trog der Schweine.
»Ich habe nicht oft die Gelegenheit.«
Hansen löste seinen Blick von dem kleinen Jungen. Er glaubte so etwas wie Sehnsucht in Jorkes Stimme gehört zu haben. Du musst aufpassen, ermahnte er sich. Du bist ein treuer Verlobter.

Nach dem Tee mit Knerken bot ihm Jorke ein Gläschen Wein an. Hansen hatte nichts dagegen. Es war der allererste Tag auf der Hallig, an dem er sich gelöst und frei fühlte. Bis dahin hatten stets Lasten und Verpflichtungen auf seinen Schultern geruht, deren er sich dauernd bewusst war.
Sie saßen in der Küche, weil der Ausblick nach Norden über die See so schön sei, wie Jorke gleich erklärt hatte. Sie legte keinen Wert auf Repräsentation, das merkte Hansen sofort, obwohl in ihrem Pesel feines und kostbares Porzellan hinter Glas aufbewahrt wurde, wie er im Vorbeigehen gesehen hatte. Ihr Vater, der als Kapitän zur See gefahren war, hatte aus China und der Südsee außer Kuriositäten auch wertvolle Dinge mit nach Hause gebracht.
In der Ferne war Föhr zu sehen. Hansen, der sich hier wohl fühlte, als sei er zu Hause, lehnte sich zurück und streckte sich genüsslich. Seine Hände stießen gegen die Katschur, und er besann sich, wo er war. Erschrocken entschuldigte er sich.
»Kein Grund«, sagte Jorke, »ich bin mit Brüdern aufgewachsen. Du bist ihnen ähnlich im Aussehen. Aber ich glaube, auch im Wesen.«
»Ist das ein Vor- oder ein Nachteil?«, fragte Hansen schmunzelnd und nahm einen weiteren Schluck Wein. Während seine Augen ihr folgten, ahnte er schon, dass er sich vielleicht zu weit auf unsicheres Terrain vorwagte. Aber warum auch nicht?
Jorke holte eine Kerze von einem Bord, stellte sie auf den Tisch und zündete sie an. Der Himmel draußen hatte sich verdüstert, und einzelne Schaumkronen auf den Wellen zeigten, dass es auffrischte. »Ich liebe meine Brüder«, murmelte sie selbstvergessen.
»Ich habe keine.« Aber Sönke Hansens Gedanken waren nicht bei irgendwelchen Brüdern, die ihm völlig gleichgültig waren, denn Jorkes frischer Duft wirbelte um ihn herum und machte ihn noch trunkener, als er schon war. Sie kam näher, umfing ihn und schmiegte sich an ihn, ihre Locken kitzelten seine Haut, und alles zusammen machte ihn seltsam glücklich und federleicht.
»Wollen wir Karten spielen, oder wollen wir etwas anderes?«, flüsterte sie an seinem Ohr. »Wir sind allein. Der Hütejunge wohnt ab heute bei Mumme.«
»Wir wollen etwas anderes«, flüsterte Sönke Hansen zurück und folgte Jorke zum Alkovenbett.

Die Sonne wärmte Sönke Hansens Rücken, als er am frühen Sonntagmorgen nach Hilligenlei zurückwanderte. Er hatte die Nacht genossen, und sie wurde zum vorläufigen Schlussstrich für seinen Auftrag auf der Hallig.
Er begann zu pfeifen.
»Welchen Grund hast du schon, mit dir so zufrieden zu sein, Deichbauer vom Binnenland?«, fragte eine gehässige Stimme hinter seinem Rücken, als er gerade den Stock zwischen Langeness und Nordmarsch querte.
Hansen fuhr herum, sprachlos in dem kurzen Augenblick, den es ihn kostete, in die Realität zurückzukehren. Hinter ihm hatte sich Tete Friedrichsen aufgebaut, wie zum Kampf bereit mit gegrätschten Beinen, irgendwelchem Gerät auf dem Rücken und verbissener Miene. »Was geht es dich an, Ratmann?«, fragte er zurück.
»Ich weiß gerne, was auf meiner Hallig vorgeht, das solltest du inzwischen bemerkt haben«, antwortete Friedrichsen. Irgendwie wirkte er atemlos, beunruhigt und aufgewühlt.
Nur weil er seinen Gegner am Sonntagmorgen auf einem von aller Welt begangenen Weg antraf? Hansen befand sich doch nicht auf Meedeland, wo man ihm hätte vorwerfen können, Gras zu zertrampeln.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.06.2005