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Neue Heimat gefunden

Letzter Teil der Erinnerungen von Irene Martens

Oppenwehe (weh). Irene Martens, geborene Kuhn, aus Oppenwehe (72) musste als Kind miterleben, wie die Russen ihre Heimat Lenzen, Kreis Elbing, Westpreußen, besetzten. Heute schreibt sie den letzten Teil ihrer Aufzeichnungen. Die STEMWEDER ZEITUNG bedankt sich bei der Autorin für ihren Mut, ihre schrecklichen Erinnerungen zu veröffentlichen. Selten hat eine Serie so viel Resonanz und Anteilnahme bei den Lesern hervorgerufen.

»Mit einem Sack, der mir als Kleid diente, einer alten zerschlissenen Strickjacke, einem grauen und einem schwarzen Schuh kamen wir im Lager Wolfen bei Bitterfeld an.
Mein kleiner Bruder Manfred war in eine alte Decke gehüllt. Das war das ganze Hab und Gut. Aber vor allem hatte ich meinem Bruder das Leben retten können. Er war das einzige, was mir geblieben war. Durch einen Kontakt nach Amerika (Kalifornien), wo ein Vetter meiner Mutter lebte, kam uns viel Gutes zu. Er hatte erfahren, wie arm wir geworden waren, und so schickte er uns Care-Pakete. Wir bekamen Kleidung, Schuhe und Lebensmittel.
So fing für uns ein annähernd normales Leben an. Zwei unschuldige Waisenkinder, die der Krieg aus uns gemacht hatte. Knochenweiche in den Füßen, wodurch ich heute noch Beschwerden habe, mit Operationen und langen Gipsverbänden, sowie von jungen Jahren an Herzbeschwerden, wahrscheinlich infolge Thyphus und Unterernährung, sowie die seelische Belastung vom Verlust der Heimat, der Eltern, dem Bruder und dem Elternhaus - das sind wohl die Auslöser meiner seit vielen Jahren chronischen Erkrankungen. Aber auch die durch die russische und polnische Miliz erlebte Gewalt und die Greueltaten sind nicht spurlos an mir vorübergezogen.
Durch die Kriegsentwicklung und den langen Aufenthalt in unserer durch Russen und Polen besetzten Heimat bin ich nur sechseinhalb Jahre zur Schule gegangen. Trotz Mittelschulbildung habe ich keinen Abschluss bekommen. Als einfache Landarbeiterin war ich bei einem Bauern hier in Deutschland beschäftigt. Weil ich meinen kleinen Bruder hatte und für ihn sorgen musste, blieb mir nur diese Verdienstmöglichkeit.
Durch den geringen Lohn damals bekomme ich heute eine ganz bescheidene Rente ausgezahlt. Danken möchte ich meinem Mann Herbert für das Verständnis für meine Vergangenheit, die mein Leben geprägt und begleitet hat. Drei gesunde Kinder wurden uns geschenkt und wir haben sie großgezogen. Wir haben ihnen einen Weg für ein Weiterkommen, so gut es ging, bereitet. Mit unseren Schwiegerkindern gehören auch sechs wohlgeratene Enkelkinder zu unserem Leben. Wir haben sie alle sehr lieb und sie schenken unserem Leben viele gemeinsame, schöne Stunden.
Danken möchte ich auch allen Verwandten, Nachbarn und Freunden, die mich, jeder auf seine Art, in ihrer Runde aufgenommen haben. Obwohl meine Wurzeln im fernen Westpreußen sind, habe ich hier eine Heimat gefunden. Herbert und ich haben sie uns so eingerichtet, dass wir uns wohlfühlen. Mögen uns noch ein paar Jahre im Leben gemeinsam beschieden sein. Einigermaßen gesund und mit Zufriedenheit auf dieser schönen Erde. Fast 47 Ehejahre haben wir gemeinsam gemeistert und gehen nun langsam auf die Goldene Hochzeit zu. Mögen die Schutzengelchen auch weiter über uns wachen, denn ohne sie wären wir nicht hier.
Die Welt weiß alles, was die Deutschen im Krieg getan haben. Die Welt weiß nichts von dem, was uns Deutschen angetan wurde.«

Artikel vom 28.05.2005