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Leitartikel
Billig oder preis-»wert«

»Geiler« Geiz
- eine echte
Spaßbremse


Von Bernhard Hertlein
Überall lauern Gelegenheiten, Preise zu drücken.
Der Kopf an der Bluse ist nicht richtig angenäht. Ein Grund, sich zu ärgern? Nicht wirklich. Aber ein Rabatt ist trotzdem »fällig«.
Die Milchpreise nehmen dem Bauern die Butter vom Brot. Ein Grund, freiwillig etwas mehr zu zahlen? Nicht doch. Stattdessen geht es zum Discounter, wo der Liter Milch für nochmal drei Cent weniger zu haben ist.
Beim neuen Lastwagen findet sich nach langem Suchen am rechten hinteren Kotflügel ein millimetergroßer Kratzer. Ein Vorbote der vielen Schrammen nach den ersten Baustellenfahrten? Sicher. Aber vorher soll der Händler den Fund mit einem richtigen Nachlass »honorieren«.
Andere freuen sich, wenn das Eigenheim endlich fertiggestellt ist. In Deutschland beginnt jetzt die Zeit, da man durch Mängelsuche den Preis nochmal so richtig drücken kann.
Andere genießen ihren Urlaub. Deutsche genießen es, während der Reise penibel eine Liste der Dinge zu führen, die möglicherweise den Urlaubsgenuss trüben könnten. So lassen sich nachträglich die Reisekosten senken.
Deutschland ist arm geworden, arm an Großzügigkeit. Die einfache Frage »Darf's ein bisschen mehr sein?« wird sofort als Angriff auf das eigene Portemonnaie verstanden. Gekauft wird das Billigste, und zwar möglichst billig. Wen wundert es, dass diese Ware oft nicht mal den niedrigen Preis wert ist?
Gewiss ist in den vergangenen Jahren als Folge der Entlassungswellen und von »Hartz IV« die Zahl derer gestiegen, für die Geiz eine Notwendigkeit ist. Jemandem, der von der Hand in den Mund leben muss, zu raten, er solle zum Zwecke einer dringend notwendigen konjunkturellen Erholung mal ordentlich prassen und sich verschulden, wäre leichtsinnig, unsozial und unverantwortlich.
Doch so arm, wie es die Stimmung und die konjunkturelle Talfahrt vermuten lassen, sind Deutschland und die Deutschen nun auch nicht. Wohl rechnen sich die Menschen hier gern ärmer. Befürchtete künftige Reallohneinbußen werden als gegeben vorausgesetzt und schon jetzt in alle Kaufentscheidungen einbezogen. Gespart wird aus Angst -ĂŠnicht, um sich in absehbarer Zeit mal etwas Größeres oder besonders Schönes leisten zu können.
Wer behauptet, Geiz sei geil, hat eine merkwürdige Vorstellung von Geilheit. Gerade die Begierde - und nichts anderes ist »Geilheit« - lebt von der Großzügigkeit. Geiz hingegen ist ebenso egoistisch wie unerotisch. Kurz gesagt: Geiz ist eine echte Spaßbremse, und genau so präsentiert sich Deutschland derzeit - ein Jahr vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft - nach außen.
Überall lauern Gelegenheiten, Preise zu drücken. Wir können sie wahrnehmen. Aber wir sollten uns nicht wundern, wenn dann der Binnenmarkt weiter darbt. Wo die Verbraucher geizig sind, sind auch Investoren zurückhaltend. Und wo Investoren fehlen, entstehen ganz sicher keine neuen Arbeitsplätze.

Artikel vom 28.05.2005