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Das Wörterbuch
für Zeitgenossen

»Lesereise« Gast im Raum für Kunst

Von Rainer Maler
Paderborn (WV). Was Philosophen, Schriftsteller und andere Menschen über die Spezies »Zeitgenosse« geschrieben haben, davon gaben die Schauspielerinnen Ariane Senn und Kerstin Westphal vom Ensemble der Westfälischen Kammerspiele im »Raum für Kunst« Lese-Kostproben.

Die in der Schweiz erscheinende Zeitschrift »DU« veröffentlichte im Herbst 2003 ein Sonderheft mit dem Titel »Was Zeitgenossen wis-sen müssen«. Der Zeitgenosse scheint ein befremdliches Wesen, mit Handy-Manie und BigMac-Lifestyle, das im Boulevardcafe dem Treiben der »degenerierten« Mitmenschen zusieht und sich in seiner Überheblichkeit für die einzig wahre Ausnahme hält.
In manchmal grotesken, manchmal klinisch-pathologischen Befunden über den Zustand unserer fragmentarischen Welt gaben sich literarische Stilblüten und Beschreibungen romantischer Befindlichkeiten ein Stelldichein. Senn und Westphal unterstrichen den Charakter der Beiträge von Autoren wie Heinrich von Kleist, Elke Heidenreich und Sebastian Haffner mit illustrativem Pathos und Zur-Schau-Stellung von Alltagsdingen. Bei S wie »Sandale« holten sie ausgetretene Exemplare hervor. Beim Stichwort »Geld« wurde ein dickes Sparschwein auf den improvisierten Tisch gewuchtet, bei L wie »Liebesleid« stand Ariane Senn mit einem roten Herz in der Hand in der Ecke.
A wie »Ahnungslos« sitzt zu Hause, und der Briefträger bringt etwas, wovon man keine Ahnung hat. A zwei wie »Autofahrer« erlebt seine persönliche Apokalypse, weil er nie mehr einen Parkplatz findet und mit Angst weiterfahren muss, bis er stirbt. In der Phantasie und Literatur ist eben alles möglich. Senn und Westphal lesen routiniert und doch mit sichtlichen Spaß an den kuriosen Beschreibungen unserer so schrägen Umwelt. Bei S wie »Superstar« hieß es nur knapp: Gezeigt wird eine Show, wo fast alle nichts können, wovon sich die Zeitgenossen in regelmäßigen Abständen im Fernsehen allzu gern selbst überzeugen.
Die Kommentare zum Zeitgeschehen und den beteiligten Protagonisten lieferten ein meist sarkastisch eingefärbtes Bild menschlichen Zusammenlebens, mit fehlendem Bewusstsein der Männer für wohlgepflegte Fußnägel und mangelhafter Rechtschreibung. Präsentiert wurden die literarischen Köstlichkeiten in perfekten Portionen, kalorienbewusst und mit W wie »Wiederholung« sei es wiederholt gesagt: Dass die Kammerspiele mit ihrer Lesereise leider so wenig Aufmerksamkeit finden, bedarf vielleicht eines doppelten M's wie »mehr Marketing«.

Artikel vom 31.05.2005