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Ein »Urgestein« kann es nicht lassen

Karl Lohmeier repariert mit 91 Jahren immer noch Fahrräder -ĂŠVitalität durch kalte Bäder

Von Felix Quebbemann
Gestringen (WB). Mit ein, zwei kräftigen Zügen zieht Karl Lohmeier das Fahrrad mit einem Flaschenzug hoch. Er holt einen Schraubenschlüssel und löst die Muttern vom Hinterreifen, der unter anderem geflickt werden muss. Auch die Speichen sind nicht mehr die neuesten.

Wer nun meint, dies sei ein normaler Vorgang bei der Reparatur, hat eigentlich Recht. Aber der Experte ist ein echtes Gestringer Urgestein. Denn Karl Lohmeier ist bereits 91 Jahre alt. Doch ohne seine Reparaturen kann er einfach nicht. Voller Vitalität macht sich Lohmeier in der Werkstatt an der Gestringer Straße daran, sämtliche Drahtesel wieder flott zu machen.
Bereits sein ganzes Leben beschäftigt sich der Rentner mit den Zweirädern. Sein Großvater und sein Vater hatten noch das Schuhmacher-Handwerk gelernt und mussten jeden zweiten Tag bei Baron von Hüffe vorstellig werden. Der hatte alles im Überfluss, alles »200-fach«, weiß Lohmeier aus Erzählungen von Großvater Wilhelm und Vater Gottlieb.
Als die Fahrräder sich immer größerer Beliebtheit erfreuten, wollte Gottlieb diese Entwicklung nicht an sich vorbeiziehen lassen. Er schrieb der Bielefelder Firma Dürkopp, dass er ein armer Schustergeselle sei und ob er nicht ein Fahrrad, das damals 240 Mark kostete (der Wert einer Kuh), geschenkt bekommen könnte. Wenige Tage später holte Gottlieb das Fahrrad von der Firma, die wohl sehr angetan war von dem Brief, zum Preis von 80 Mark ab. Der Vater radelte von nun an zum Baron. Der wiederum wurde neugierig auf die neue Fortbewegungsart, und Gottlieb brachte ihm in einer Woche das Radfahren bei. Der Baron wollte nun aber genau das Zweirad besitzen, auf dem er das Radfahren gelernt hatte. Er gab Gottlieb 240 Mark, so dass der sich nun ein weiteres Rad in Bielefeld kaufen konnte.
Fortan spezialisierte sich der Vater nebenbei auf das Reparieren von Fahrrädern. Und 1902 eröffnete er ein Fahrradgeschäft zunächst in Lashorst, um schließlich, 1933, nach Gestringen umzusiedeln.
Auch Karl, der im Jahr 1914 geboren wurde, beschäftigte sich schon in jungen Jahren mit Fahrrädern. Er übernahm Ende der 30er Jahre das jetzige Geschäft, in dem früher auch Nähmaschinen und Rasenmäher gehandelt und gewartet wurden, von seinem verstorbenen Bruder Heinrich. Bis heute hat Karl Lohmeier die Faszination nicht losgelassen, auch wenn er mit den neuartigen Fahrrädern nicht viel anfangen kann. »Mountain-Bikes sind der letzte Schrei. Das ist ja furchtbar«, so der 91-Jährige. Bei einem alten Sparta- oder Herkules-Fahrrad blüht Lohmeiers Herz aber auf. Und es gibt nur selten einen Drahtesel, den er nicht wieder flott bekommt. »Wichtig ist immer das Einölen.« Und auch Spezialwünsche erfüllt er. So wollte ein Kunde an seinem Holland-Rad eine Sieben-Gang-Schaltung angebracht haben. »Die brauchen Sie zwar hier nicht unbedingt«, riet Lohmeier. Doch der Kunde ist König. »Wenn es gewünscht wird, wird es auch gemacht.« Fahrräder sind sein Hobby, »damit der Tag herumgeht«. »Im Winter«, weiß seine Tochter Inge zu erzählen, »ist mein Vater immer ganz ungeduldig, wenn nicht genügend Fahrräder zum Reparieren da sind.«
Das Geheimnis seiner Vitalität gibt der 91-Jährige auch preis. »Ich nehme jeden zweiten Abend ein kaltes Bad« - und das seit mehr als 20 Jahren. Das bringe den Kreislauf in Schwung und ließ auch schon sein Kreuzleiden verschwinden. »Er behandelt sich selbst«, schmunzelt denn auch Tochter Inge Bolsenbroek, die mit ihrem Ehemann Paul im Nebenraum einen Musikladen betreibt.
Paul Bolsenbroek hilft seinem Schwiegervater auch schon mal bei fest angezogenen Schrauben. Doch wenn sich der Besucher anschaut, wie Karl Lohmeier mit einem Bolzenschneider mühelos eine verrostete Fahrradkette durchtrennt, steht fest: »Wenn der 91-Jährige eine Schraube nicht lösen kann, muss diese schon sehr fest sitzen.«
Und einen ganz besonderen Schatz hat Karl Lohmeier aus den frühen Radfahrzeiten auch noch. Eine Radfahrkarte seines Schwiegervaters Friedrich Schmidt aus dem Jahr 1909. Die musste man damals für 50 Pfennige erwerben, um einen Drahtesel auch lenken zu dürfen - quasi ein Fahrradführerschein.

Artikel vom 14.05.2005