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Der letzte Feldpostbrief kam nie an

WB-Serie: Herbert Winzker erzählt von der abenteuerlichen Suche nach seiner Familie

Von Annemarie Bluhm-Weinhold
Steinhagen-Amshausen (WB). Von Anfang an hatte er den Krieg mitgemacht, war in Frankreich ebenso wie in Russland, und geriet an dessen Ende in amerikanische Gefangenschaft. Aber nur für fünf Wochen. Im Juni 1945 ist er frei. Doch ein schlimmes Kriegserlebnis steht Herbert Winzker noch bevor: die Suche nach Ehefrau und Kindern. Eine Familiengeschichte.

Als am 8. Mai die Waffen schweigen, ist der Sanitätsstabsfeldwebel mit seinem Krankenkraftfahrtzug - die Russen im Nacken - von Ungarn aus auf dem Weg nach Österreich, wo die Männer am 9. Mai eintreffen und in der Nähe von Salzburg in einem großen Auffanglager der Amerikaner landen. »Wir haben gedacht, wir hätten es geschafft«, erinnert sich der heute 91-Jährige. Doch zwei Wochen später beginnt eine Odyssee, die ihn zusammen mit 50 weiteren Männern auf der Ladefläche eines amerikanischen Lkw zunächst in ein deutsches Auffanglager in der Nähe von Rosenheim führt. Dort herrscht das pure Elend: »Wir haben aus Brennnesseln Spinat gemacht und haben um Kartoffeln gebettelt.«
Umso erfreulicher zu hören, dass die Soldaten aus dem Westen entlassen werden sollen. Winzker, der Niederschlesier, gibt forsch Bad Rothenfelde als Adresse an. Denn dort war er 1939 nach dem Polen-Feldzug für eine Weile stationiert, hatte unvergessliche Weihnachtstage mit Ehefrau Eva-Elisabeth und Freunden verbracht - und er hatte seiner Frau im letzten Feldpostbrief geschrieben, wenn sie denn aus der Heimat im Osten fliehen müsse, dann solle sie nach Bad Rothenfelde gehen. Aber: »Diesen Brief hat sie nie bekommen.« In den Wirren von Flucht und Bombenangriffen sind die wichtigen Zeilen untergegangen und verliert sich auch die Spur von Eva-Elisabeth Winzker, ihrer Mutter und den beiden Kindern Susanne (3) und Ingo, der nur wenige Monate alt ist.
Herbert Winzker hat es im Juni 1945 schließlich auf abenteuerliche Weise per Kohlenzug über Magdeburg und zu Fuß von Bayern aus an den Teuto geschafft. In Amshausen findet er Unterkommen und sogar Arbeit in der Möbelfabrik Piel. Doch seine Eva-Elisabeth und die Kinder bleiben verschwunden: In Rothenfelde haben sie sich nicht gemeldet, der Suchdienst des Roten Kreuzes kann sie auch nicht finden. Herbert Winzker ist krank vor Sorge und klappert die norddeutsche Verwandtschaft ab - um in Wesermünde vom Schwager zu hören, »Evchen« und die Kinder seien doch bei einem Angriff auf Potsdam ums Leben gekommen. Herbert Winzker ist am Boden.
Tatsächlich war die Ehefrau zunächst bei der Schwägerin in Potsdam untergeschlüpft, den Angriffen aber durch eine Fahrt nach Berlin entkommen. Dort hatte sie bei Verwandten auch ein neues Obdach gefunden - und dort traf sie durch puren Zufall einen ehemaligen Kameraden ihres Mannes. Über ihn und weitere Mitglieder des ehemaligen Sanitätszuges kann endlich im Juli der Kontakt in den Westen hergestellt werden. Für Herbert Winzker steht sofort fest: »Ich muss sie holen.«
Doch so einfach ist der Weg durch die sowjetische Besatzungszone nicht. An der Grenze in Helmstedt warten die Russen. Die Flasche Schnaps und die Wurst, die seine Amshausener Wirtin ihm für solche Fälle mitgegeben hatte, bringen Herbert Winzker nicht weiter: »Die Russen haben sie gleich weggeworfen.« Und Winzker selbst wird mit 200 anderen Reisenden erst einmal festgesetzt, bis man ihm die Weiterreise schließlich doch gestattet. Kurz vor dem Bahnhof sind die Russen dann wieder da: »Aber die gleiche noch mal Prozedur wollte ich mir nicht antun«, wirft sich der Amshausener in einen Graben. Die Russen finden ihn nicht, aber erst Stunden später wagt er sich aus dem Versteck.
Das Wiedersehen ist natürlich glücklich. »Doch dann ging die Rennerei los«, so Winzker. Schlangestehen bei den Behörden, Entlassungsschein besorgen für den Westen - es ist unmöglich, einen Transport zu bekommen. Und der Ehemann muss zurück an seinen Arbeitsplatz in Amshausen . . .
Monate vergehen, bis die Familie wieder vereint ist. Am 2. November 1945 schließt Herbert Winzker seine Lieben schließlich in Amshausen in die Arme. »Es hat gestürmt und geregnet an diesem Abend«, weiß er noch.

Artikel vom 10.05.2005