09.05.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Es gibt keinen Schlussstrich«

Der Bundespräsident in der Gedenkrede: Erinnerung an Leid wachhalten

Berlin (dpa). Bundespräsident Horst Köhler hat sich gestern im Berliner Reichstag beim Gedenken an den 60. Jahrestag des Kriegsendes nachdrücklich gegen einen Schlussstrich unter die von Deutschland während der Nazi-Zeit begangenen Verbrechen gewandt.

»Wir haben die Verantwortung, die Erinnerung an all das Leid und seine Ursachen wachzuhalten, und wir müssen dafür sorgen, dass es nie wieder kommt«, sagte Köhler beim Festakt. In seiner Ansprache blickte der Bundespräsident auch nach vorn: »Wenn wir den Weg sehen, den wir seit 1945 zurückgelegt haben, dann erkennen wir auch die Kraft, die wir aufbringen können. Das macht uns Mut für die Zukunft.«
Deutschland sei bei allen Schwierigkeiten eine stabile Demokratie. »Wir haben heute guten Grund, stolz auf unser Land zu sein. Das Erreichte ist undenkbar ohne die Lehren, die wir gezogen haben, und es ist das Ergebnis ständiger Anstrengung.« Es gebe aber auch einige Unbelehrbare, die zurück wollten zu Rassismus und Rechtsextremismus. »Aber sie haben keine Chance. Dafür steht die überwältigende Mehrheit der mündigen Bürgerinnen und Bürger, und dafür steht unsere wehrhafte Demokratie«, bewertete Köhler die rechtsextremistischen Tendenzen.
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hatte bei der Eröffnung der Feierstunde ebenfalls an die Verpflichtung aus der Vergangenheit erinnert.
Das Unglück, das Deutschland über die Welt gebracht habe, wirke bis heute fort, sagte Köhler vor den Abgeordneten des Bundestages, den Vertretern der Länder und der Bundesregierung sowie zahlreichen Ehrengästen. Noch immer litten Menschen unter dem Verlust ihrer Angehörigen, trauerten um den Verlust ihrer Heimat. »Wir Deutsche blicken mit Schrecken und Scham zurück auf den von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg und auf den von Deutschen begangenen Zivilisationsbruch Holocaust.«
Köhler gedachte der Millionen Opfer des von Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieges, der sechs Millionen ermordeten Juden, der ermordeten Sinti und Roma, der Millionen Zwangsarbeiter und der vielen anderen Opfer. »Wir fühlen Abscheu und Verachtung gegenüber denen, die durch diese Verbrechen an der Menschheit schuldig geworden sind und unser Land entehrten.« Köhler würdigte auch die deutschen Opfer, erinnerte an die Kriegsgefangenen und das Leid der deutschen Zivilbevölkerung. »Wir trauen um alle Opfer, weil wir gerecht gegen alle Völker sein wollen, auch gegen unser eigenes.«
Deutschland werde die zwölf Jahre der Nazidiktatur und das Unglück, das Deutsche über die Welt gebracht habe, nicht vergessen. Deutschland könne aber in seiner Geschichte auch an viel Gutes anknüpfen. »Unsere ganze Geschichte bestimmt die Identität unserer Nation. Wer einen Teil davon verdrängen will, der versündigt sich an Deutschland.«
Nach dem Wiederaufbau sei Deutschland heute nicht nur äußerlich ein anderes Land als vor 60 Jahren. »Unser Land hat sich von seinem Inneren her verändert, und das ist erst recht ein Grund zur Freude und Dankbarkeit.« Diesen Dank schulde Deutschland an erster Stelle den Völkern, die Deutschland vom Nationalsozialismus befreit hätten. Die ersten Schritte hätten die Besatzungsmächte vorgegeben. »Die Deutschen haben damals Vieles miteinander beschwiegen. ÝNichts sagen, nichts fragenÜ, war die Einstellung vieler. Darin waren sich Schuldige und Unschuldige oft unausgesprochen einig«, sagte Köhler mit Blick auf die Verdrängung der Vergangenheit nach 1945. Heute sähen vor allem Jüngere genau hin und fragten, wie sich damals die Menschen verhalten haben.
In der sowjetischen Besatzungszone habe schweres Unrecht die Erfolge der Entnazifizierung überschattet. Auch dort seien viele Menschen zunächst voller Hoffnung ans Werk gegangen. »Doch dieser Idealismus wurde betrogen.« Westdeutschland habe es nach dem Krieg leichter gehabt. 1989 habe sich überall in Mitteleuropa der Wille zur Freiheit durchgesetzt. »Die Ostdeutschen haben eines der besten Kapitel der deutschen Geschichte geschrieben.« Endlich seien die Grenzen nach Osten hin offen.
Die Bundesrepublik habe sich von Anfang an für die europäische Einigung eingesetzt. »Im vereinten Europa können wir nun endlich eine freie Gemeinschaft guter Nachbarn sein.«

Artikel vom 09.05.2005