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»Ein Wunder, dass wir überlebt haben«

»60 Jahre danach« schildern Eberhard (65) und Ingo (68) Schmeer ihre Flucht aus Ostpreußen

Werther (WB/dh). Unzählige Menschen aus Ostpreußen verbindet das gleiche Schicksal. Und doch hat jede Familie ihre eigene Geschichte. Im letzten Teil der WESTFALEN-BLATT-Serie »60 Jahre danach« schildert Eberhard Schmeer aus Werther, der heute auch als Leiter der Musikgruppe »Lustige Musikanten« bekannt ist, wie er mit seinem Bruder Ingo und den Schwestern Ingrid und Eva-Maria nach Westfalen kam:

»Ich wurde in Richau im Kreis Wehlau geboren. Unsere Eltern hatten im Dorf ÝMazaneck's KrugÜ gepachtet, zu dem auch ein kleiner Kolonialwarenladen gehörte. Im Jahr 1944 sind wir nach Bladiau, Kreis Heiligenbeil, zu unseren Großeltern auf den Hof Rudorf, umgesiedelt. Die Flucht oder unser Leidensweg begann am Mittwoch, 21. Februar 1945, um 18 Uhr.
Es war eisig kalt, das Frische Haff war zugefroren. Wir flüchteten bei Dunkelheit mit einem Pferdewagen im Treck, das heißt mit vielen Angehörigen und zahlreichen fremden Familien. Unsere Großeltern blieben zunächst allein auf ihrem Hof zurück.
Ich erinnere mich, dass wir - genau wie die anderen Familien -Êimmer wieder im Eis eingebrochen sind. Wie oft wurden die Pferde umgespannt, um gegenseitige Hilfe zu leisten und die Wagen wieder flott zu machen. Die Trecks waren ein gefundenes Fressen für die Russen. Schutzlos den Tieffliegern ausgesetzt, kamen viele Menschen ums Leben. Für manchen Erwachsenen mochte es sogar wie eine Erlösung von Kummer und Leiden sein.
Wenn ich mir heute auf der Karte die Stationen unseres Fluchtweges ansehe, kann ich es nicht glauben, diese Strapazen überstanden zu haben. Wir flüchteten von Bladiau über Quilitten nach Leysuhnen am Frischen Haff. Dann ging es quer über das zugefrorene Haff zur Frischen Nehrung. Weitere Stationen waren Kahlberg, Bodenwinkel, Groß Lichtenau und Hornwalde. Jenseits der Weichsel ging es weiter Richtung Danzig bis Karthaus - etwa 80 Kilometer vor Stolp.
Am 10. März 1945 überraschten uns hier die Russen. Die Pferde wurden uns abgenommen, Uhren und Schmuck sowieso. Dann wurden alle Flüchtlinge in eine Scheune zusammen- und wieder zurückgetrieben, wie eine Herde. Irgendwann waren wir wieder in Bladiau, ausgehungert und ausgemergelt. Wir wohnten im Haus der Familie Korn, Verwandten von uns. Die älteren Kinder und Jugendlichen wurden zur Arbeit verpflichtet, wir trieben uns herum und bettelten bei den Russen. Als die Kunde durch Bladiau ging, unser Großvater sei gesehen worden, schickte uns unsere Tante zum Hof Rudorf.
Dort trafen wir tatsächlich unseren Großvater. Er saß in der Hofruine, etwa da, wo sein Zimmer war, und aß, was er noch hatte. Sprachlos schauten wir uns an. Unsere Großmutter war auf der Flucht in der Nähe von Danzig verstorben. Gemeinsam mit unserem Großvater gingen wir zurück nach Bladiau.
Wenig später vertrieben uns die Russen nach Lank. Hier wohnten wir mit unserer Mutter und dem Großvater in einem leerstehenden Haus. Am 16. November 1945 starb unsere Mutter an Hungertyphus, sie wurde auf einem Acker, in einer Decke gehüllt, beigesetzt. Nur wenig später starb unser Großvater am gleichen Leiden. Wir waren allein.

Artikel vom 07.05.2005