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Kokettieren mit
dem Publikum

Georg Preuße wieder ganz »Mary«

Von Thorsten Böhner
(Text und Foto)
Delbrück (WV). Da steht er am Ende der Show, das Make-up aus dem Gesicht gewischt, Perücke und Abendkleid abgelegt, mit nacktem Oberkörper auf der Bühne der Delbrücker Stadthalle - und doch ist Georg Preuße irgendwie immer noch Mary.

Kurz vor dem Ritual des Abschminkens hatte der Travestie-Star den Kreis geschlossen mit einem Lied, das sich thematisch an das Auftaktchanson anlehnte: das Bekenntnis eines Menschen, der im Leben nichts ausließ, keine Goldene Mitte suchte, immer nur im siebten Himmel oder nah am Abgrund schwebt. Man glaubt es dem Künstler gern, zu sehr entsprach dies seinem Programm.
Immer wieder riss Mary die Zuschauer aus ihrer Euphorie, schwenkte von der schrillen Diva urplötzlich um in nachdenkliche Sphären, kehrte Spitzen und Zoten den Rücken und sang in ergreifender Weise von verprügelten Frauen, Hunger, Krieg, Rechtsradikalismus und AIDS, das schon viele Kollegen dahinraffte. Totenstill war's dann in der Delbrücker Stadthalle.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Neunzig Prozent des Abends wurde herzhaft gelacht, und dafür liebte das Publikum seine Mary, sie selbst hatte gleichermaßen Spaß. Sie feuerte eine Pointe nach der anderen ab. Ob geplant oder aus dem Stegreif - die Gags saßen fast immer. Humoristische Betrachtungen von Alters- und Gewichtsproblemen sowie Seitenhiebe auf prominente Kollegen sind nicht neu - doch Mary macht uns glauben, wir hörten sie zum ersten Mal. Zündet ein Witz nicht sofort, hilft sie nach (»Der war jetzt schwer, nicht?«).
Klarer Fall: Das Kokettieren mit den Zuschauern liegt ihr. Einer dreißig Jahre Verheirateten zollt Mary Mitleid: »Und wie lange müssen sie noch?« Eine andere, die gerade die Hand vor den Mund hält, muss sich fragen lassen: »Na, wegen Renovierung geschlossen?« Und wer über dreißig Jahre auf der Bühne steht, darf auch zwei Glatzköpfe in den mittleren Reihen mit einem übergroßen weiblichen Ausschnitt verwechseln.
Ja, das Alter - doch auch Marys Jugend war hart. Zahnspangen, Pummeligkeit und Akne erschwerten ihren Weg, während sie mit Stöckelabsätzen an den Gummistiefeln durch den Morast ihres Heimatdorfes stakste. Per Videoeinspielung wird die Grand Dame mit ihrem Erschaffer Preuße konfrontiert, die beiden duellieren sich verbal, um sich dann singend zu verbrüdern (oder zu verschwestern?). Neben diesem Energiebündel wäre wohl jeder andere auf der Bühne überflüssig. Ausgenommen Pianist Harry, der den teils beschwingten, teils ernsten Songs den passenden musikalischen Rahmen zimmerte. Der stehenden Ovationen gegen Ende konnten sich beide Vollblutkünstler jedenfalls sicher sein.

Artikel vom 07.05.2005