20.05.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Ach so, ja natürlich«, stimmte Sönke Hansen zu und verlor jedes Interesse an der Olivia. »Wie viele Rumfabrikanten gibt es eigentlich?«
»So um die fünfundzwanzig. Größere und kleinere. Die meisten haben keine eigenen Schiffe.« Müller trank sein mittlerweile drittes Bier aus und setzte den Krug mit Nachdruck auf die vielmals gescheuerte, fleckige Tischplatte.
»Und andere Reeder, die von Flensburg ihre Schiffe um die Welt schicken?« Hansen war sich sicher, dass nur der Eigner das Risiko auf sich nehmen konnte, Flüchtlinge auszuschleusen. Wenn Nielsen kein Schiff besaß, musste Ella sich irren.
Müller schüttelte stumm den Kopf.
»Tja, dann danke ich«, sagte Hansen zögernd. »Wenn mir noch etwas einfällt É«
»Jederzeit«, versicherte Peter Müller und winkte den Wirt heran.
Sönke Hansen bezahlte und trat hinter Müller ins Freie. Er stellte fest, dass es schon Nachmittag war und er die Hallig ganz bestimmt nicht mehr an diesem Tag erreichen würde. Darüber hinaus hatte sich sein Umweg nach Flensburg als Schlag ins Wasser herausgestellt, und er war so weit wie zuvor.
Er fand es ein merkwürdiges Geschäftsgebaren von Christiansen, ihn grundlos zu belügen, aber schließlich hatte er wohl seine Gründe, die ihn nichts angingen. Verärgert marschierte Hansen zum Bahnhof, wo der Plan mit den spärlichen Zugverbindungen zur Westküste ihm einen neuen Ärger bescherte.

Kapitel 3Eine Weltreise ganz eigener Art bedeutete es, am nächsten Tag zur Hallig Nordmarsch-Langeness zu gelangen. Das erste Mal musste Hansen an der Nordschleswiger Weiche umsteigen, ein zweites Mal in Niebüll, von wo ein kleinerer Zug auf schmalerer Spurbreite ihn nach Dagebüll brachte. Er kam rechtzeitig genug an, um nachmittags den Dampfer nach Wyk zu erwischen. Das Schiff legte an der neuen Landungsbrücke an, an deren Planung Hansen selbst beteiligt gewesen war. Ein Blick über den Fischerhafen belehrte ihn, dass das Halligboot, auf das er gehofft hatte, schon fort war und er erst einmal festsaß.
Etwas unzufrieden studierte er an der nahe gelegenen Promenade die Plakate und Bekanntmachungen für die Gäste. Es empfahl sich Redlefsens Hotel, das Königshaus, in dem einstmals König Christian VIII. von Dänemark zu wohnen pflegte, aber natürlich war es für einen Inspektor des Wasserbauamtes zu teuer. Endlich entdeckte er neben dem Angebot eines Seehundjägers, abenteuerlustige Urlauber zu den Sandbänken zu führen mitsamt der Garantie, dass sie zum Schuss auf die Tiere kommen würden, auch den Hinweis auf ein erschwingliches Logierhaus.
Am nächsten Morgen lief der kleine Segler ein, der die Halligleute mit Butter und gesponnener Wolle zum Markt nach Wyk brachte und mittags zurückfuhr. Hansen sprach kurz mit dem Schiffer und nutzte dann die bis zur Abfahrt verbleibende Zeit für einen Spaziergang.
Während er sich im wirbeligen kleinen Fischereihafen umsah, strömte eine Horde von blassen Binnenländern an ihm vorbei, die soeben an der Landungsbrücke von einem Dampfer ausgespuckt worden war. Was ihnen an Gesichtsfarbe fehlte, machten sie durch ihre Lautstärke wett. Plötzlich begann er, sich auf die stille Hallig zu freuen. Auch auf ihn wartete eine Art von Urlaub. Er fragte sich, ob sich auf der Hallig viel verändert hatte.

Sönke Hansen war der einzige Fremde im Ewer, einem flachbodigen Segelschiff mit Seitenschwert. Nachdem er mit dem Schiffsführer der Rüm Hart den Fahrpreis ausgehandelt hatte, setzte er sich zu den sechs anderen Passagieren. Verstohlene Blicke trafen ihn.
Während die Halligleute miteinander schwatzten, betrachtete Hansen die Gegend.
An Steuerbord zog die Insel Föhr vorüber, weit voraus in der Ferne konnte man die Südspitze von Amrum erkennen, und an Backbord bekam allmählich die Hallig Nordmarsch-Langeness erkennbare Konturen.
Flach und grün, soweit das Auge im Glitzern des umgebenden Wassers etwas wahrnehmen konnte, lag sie im Wattenmeer. Allmählich wuchsen die darauf verstreuten schwarzen Punkte zu Hügeln auf, auf denen die Häuser standen, viele beschützt von windgeschorenen Bäumen.
Hansen war nicht der einzige Schweigsame. Eine junge Frau interessierte sich offensichtlich mehr für ihn als für das Gespräch. Sie musterte ihn ausgiebig und ohne jede Zurückhaltung.
In seiner Verlegenheit wandte sich Hansen an den Schiffer, der gerade zwischen dem Halligufer und einer trockenfallenden Sandbank in das dunklere Wasser eines Priels einbog. »Das Wasser läuft ab, nicht wahr?«, erkundigte er sich, obwohl er selbstverständlich vor der Abfahrt die Tidentabelle am Wyker Hafen studiert hatte.
Die junge Frau beugte den Kopf und strich sich die im Wind wirbelnden blonden Härchen von der Stirn, aber es war nicht zu übersehen, dass sie über Hansen lächelte. Die Frage war albern gewesen, und er bereute, nichts Gescheiteres gefunden zu haben.
»Mm«, murmelte der Mann an der Pinne und nickte kurz.
»Schwierig, die Rinne zu finden?« Hansen sah keine Pricken, hier hatte sein Amt offenbar noch keine ausgesteckt, obwohl die Sände schnell ihre Position verändern konnten. Halligschiffer fanden ihren Weg auch ohne preußisches Wasserbauamt.
»Ngh, ngh.«
Das sollte vermutlich nein bedeuten. Hansen beschloss, ebenso verkürzt zu sprechen. »In letzter Zeit Landunter gehabt?«
Der Schiffer drehte sich um und spuckte einen Priem ins Wasser, bevor er Hansen aufs Korn nahm. »Du bist wohl schon mal auf der Hallig gewesen? Wie ein Badegast von Föhr siehst du aber nicht aus.«
Hansen lachte leise und ging zum Friesischen über. »Nein, bin ich auch nicht. Ich bin Husumer.«
Allgemeines Gelächter über das Missverständnis kam auf.
»Willst du längere Zeit bleiben oder von Nordmarsch aus nach Amerika auswandern?«, fragte ein anderer mit Blick auf Hansens Reisetasche, die der langschäftigen Lederstiefel, einer Öljacke sowie des guten Anzugs wegen, den er bei der Abreise hatte tragen müssen, ziemlich ausgebeult war.
»Ich werde einige Zeit bleiben«, erklärte Hansen ausweichend. »Vögel beobachten, vielleicht fischen, wenn ich jemanden finde, der bereit ist, mich mitzunehmen, oder jagen É«
»Warum bist du dann nicht in Wyk geblieben? Die Seehundjäger dort nehmen gerne zahlende Gäste mit.«
»Ich weiß«, sagte Hansen. »Aber die Badeleute sind mir zu laut. Und sie sind zu viele. Es ist schrecklich wirbelig auf Föhr. Es soll sogar Taschendiebe geben, die im Frühjahr aus den großen Städten kommen, um die Gäste auszuplündern, habe ich gehört. Nichts für mich.«
Das kräftige Nicken der Halligleute zeigte ihm, dass er ihr Verständnis hatte.
»Manchmal ist es richtig gefährlich«, wusste eine ältere Frau treuherzig zu berichten. »Die Kutschen fahren viel zu schnell und werden nicht einmal langsamer, wenn einer nicht so gut zu Fuß ist.«
Umgehend erfuhr Sönke Hansen, dass vor einer Woche durch eben diese Rücksichtslosigkeit ein Topf mit bester Halligbutter - der ersten des Jahres - auf der Uferstraße zu Bruch gegangen und der Schaden vom Schuldigen nicht bezahlt worden war.
Überhaupt: Auf der Hallig sei es am schönsten, war die einhellige Meinung.

»Im vorigen Jahr hatten wir zwei Gäste«, nahm der Schiffer das Gespräch nach einiger Zeit wieder auf. »Vielleicht kommen die ja wieder.«
»Wenn es ihnen auf der Hallig gefallen hat, werden sie es weitererzählen, und es wird sich herumsprechen, wie schön die Hallig ist«, meinte Hansen, während er registrierte, dass dieses Thema anscheinend für die Halligleute von besonderem Interesse war.
»Wir leben hier sehr einfach É«, sagte die ältere Frau.
»Ich weiß. Aber es gibt Binnenländer, die gerade das suchen.«
Der Schiffer rümpfte ungläubig die Nase und schien widersprechen zu wollen. Als er mit einem kräftigen Ausschlag der Pinne seinen Ewer daran hindern musste, auf der Sandbank aufzulaufen, verdrehte die schweigsame junge Frau die Augen. Hansen schmunzelte verhalten. Nur sie beide hatten den Fehler bemerkt.
Der Schiffer aber ließ seinen Blick wütend zwischen ihm und der Frau hin und her wandern.
»Bei wem könnte ich wohl am besten für ein, zwei Wochen unterkommen?«, fragte Hansen beiläufig und begann eine Runde Kautabak an die Männer auszugeben, den keiner ablehnte.
»Die Witwe Bonken nimmt neuerdings Logiergäste auf, bei ihr soll sich schon jemand angemeldet haben, und ansonsten der Wirt auf Hilligenlei. Der hat sich jetzt sogar zwei Kammern auf dem Dachboden für Gäste ausgebaut. Zwischen Ditten und Heu! Ich glaube nicht, dass er damit Gäste anlocken kann. Das ist doch wohl zu einfach!« Der Schiffer gluckerte vor Lachen in sich hinein.
»Und auf welcher Warf wohnt die Witwe Bonken?«, wollte Hansen wissen.
»Auf Hunnenswarf. Bei Witwe Bonken würdest du anständig im Pesel wohnen.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.05.2005