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Beitritt war keine Vereinigung in Augenhöhe

Ex-DDR-Oppositionelle Marianne Birthler hielt 4. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede

Von Wolfgang Braun
Kreis Höxter (WB). Beim »Nachdenken über Deutschland«, so das Thema der Hoffmann-von-Fallersleben-Rede am 1. Mai, kam Marianne Birthler, ehemalige DDR-Dissidentin und jetzige Chefin der Behörde für Stasi-Unterlagen, zu dem Ergebnis: »Wer meinte, die Einheit der Deutschen per Einheitsvertrag herzustellen, sieht sich getäuscht. Die Deutschen leben noch immer in zwei verschiedenen Welten.«

»Und anscheinend ist die mentale Kluft zwischen ihnen in den letzten Jahren eher tiefer als flacher geworden. Ganz zu schweigen von nach wie vor vorhandenen strukturellen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Differenzen.« Im vollbesetzten Kaisersaal erinnerte Prinz Viktor von Ratibor und Corvey daran, wie Hoffmann von Fallersleben, indem er das Recht zur freien Meinungsäußerung für sich in Anspruch nahm, Verfolgter und Opfer von Polizei-Schikanen geworden sei und wie diese in noch viel schlimmerer Form später von Gestapo und Stasi ausgeübt worden seien.
Als »Erfinder« der Hoffmann-Rede konnte er Oberstudiendirektor a.D. Michael Bludau begrüßen, als Sponsoren den Vorstandsvorsitzenden der Volksbank Höxter-Paderborn, Dr. Ulrich Bittihn, und seinen Stellvertreter, H. Hermann Doninger.
Hans Hermann Jansen präsentierte mit der von ihm geleiteten Chorgemeinschaft »cantus novus« eine Auswahl von Heinrich Hoffmann von Fallerslebens »Unpolitischen Liedern«, die die Verfolgung des Germanistik-Professors und Dichters als »Demagogen« durch die preußische Obrigkeit auslöste. Bludau führte aus, dass auch Hoffmanns Denken im Zusammenhang mit einer - für unsere Zeit dringend erforderlichen - Wertediskussion gestanden habe: Vaterlandsliebe, als Gegensatz zu Eigennutz und biedermeierlichem Rückzug ins Private, habe für ihn ganz oben auf der Werteskala rangiert, wobei Bludau den emotionalen Gehalt des Wortes für Hoffmann ganz besonders hervorhob.
Marianne Birthler hielt aus sehr persönlicher Perspektive Rückschau auf die Entwicklungen in der DDR und die Diskussionen um die Wege zur deutschen Einheit. Sie sprach über ihre Schwierigkeiten mit der Nationalhymne der DDR u.a., weil der Text von Johannes R. Becher stammte, der auch Loblieder auf Stalin dichtete, und weil sie die Hymne eines Staates war, »der seine Bürger schikanierte und einsperrte, Hunderttausende von ihnen verfolgte und Millionen Richtung Westen aus dem Land trieb«. Sie gestand, dass sie auch massive Schwierigkeiten mit dem »Lied der Deutschen« hat; nicht weil sie nicht sehr gut verstehe, in welch freiheitlichem und national unagressivem Sinne es von Hoffmann von Fallersleben als »Liebeslied an Deutschland« gedichtet worden war, sondern weil das Lied später so sehr missbraucht worden sei.
Sie erinnerte an die Diskussionen nach der Wende, und daran dass sie - 1990 als Sprecherin von Bündnis90/Die Grünen in der Volkskammer - gegen einen »Beitritt« der DDR zur Bundesrepublik war. Denn: »Die Idee des Beitritts hatte in unseren Augen, die als Oppositionelle 1989 eine bedeutsame Rolle spielten, keine Würde.« Statt dessen habe sie für die Wahl zu einer gemeinsamen verfassungsgebenden Versammlung plädiert. Auch hätte ein solcher Vereinigungsprozesse die Möglichkeit geboten, »dem Reformstau« im Westen, der jetzt noch viel größer sei, zu Leibe zu rücken. Eine neue Verfassung hätte als einheitsstiftendes Staatssymbol bedeutet, »dass das deutsche Volk willens ist, diesen Prozess gemeinsam und in Augenhöhe zueinander zu gestalten.« Ebenso wäre eine neue Nationalhymne dieser Zäsur angemessen gewesen.
Bei der Verleihung der Hoffmann-von-Fallersleben-Medaille an Birthler betonte Bürgermeister Hermann Hecker, dass die Referentin den Blick auf Befindlichkeit der Bürger im Osten gelenkt habe, und damit die inneren Einheit vorangetrieben habe.

Artikel vom 02.05.2005