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Schule folgt den Zirkuskindern

»Monti«-Nachwuchs lernt im rollenden Klassenzimmer der evangelischen Kirche

Von Peter Bollig (Text und Fotos)
Verl (WB). Auf die neue Saison bereitet sich der »Circus Monti« in seinem Quartier hinter der Ostwestfalenhalle vor. Noch wenige Tage, dann rollt der Tross mit seinen bunten Zirkus-Wagen wieder von Auftrittsort zu Auftrittsort - und einer fährt mit einem ganz besonderen Wagen hinterher: Lehrer Ralf Herzenberger mit seinem fahrenden Klassenzimmer.

Kleine Schreibtische, jede Menge Bücher, Computer und auch eine Tafel - nichts von dem, was in eine modern ausgestattete Schule gehört, fehlt im Klassenzimmer von Ralf Herzenberger. Dort ist vieles allerdings etwas kleiner und ein wenig beengt, manches ist gut verstaut und muss erst aus irgend einem Schrank hervorgeholt werden, denn der Unterricht für die sieben Kinder des »Circus Monti« findet im umgebauten Wohnmobil statt, einem Fahrzeug der »Schule für Circuskinder in NRW« der evangelischen Kirche.
Sechs Kinder des »Circus Monti« im Alter von acht bis 19 Jahren besuchen das fahrende Klassenzimmer, und auch die vierjährige Angelina als Jüngste im Zirkus der Familie Bausch ist mit dabei. »Eigentlich beginnt die Schulzeit erst mit fünf Jahren«, sagt Lehrer Herzenberger, aber Angelina ist schon jetzt gerne mit dabei. Ohnehin wird sie bald fünf, und dann beginnt in der Zirkusschule die Vorschulzeit.
Während Angelina spielt oder sich vorlesen lässt, arbeitet Natascha (15) am Computer, blättert Ricardo (16) in einem Schulbuch. Im »Circus Monti« sind es zwei Gruppen, in denen Herzenberger die Kinder und Jugendlichen unterrichtet - wie in einer Zwergschule, in der alle Jahrgänge gleichzeitig in einem Klassenraum betreut werden. Und so sind die beiden Gruppen nicht nach Alter zusammengesetzt, sondern danach, wie sich die jungen Leute untereinander verstehen.
Von der Grundschule bis zum Realschulabschluss bietet der gelernte Sonderpädagoge alle Schulabschlüsse an, unterrichtet sämtliche Fächer selbst. Nur für bestimmte Projekte holt er schon mal einen Kollegen dazu. »Flexibilität«, sagt der 42-Jährige, »ist an der Zirkusschule besonders wichtig.« Das fängt beim Lernort an, wenn er mit seinem umgebauten Wohnmobil durchs ganze Land reisen muss, um seine Schüler zu erreichen. Das gleiche gilt bei der Fächervielfalt: Als Lehrer müsse man sich auch auf andere Fächer einlassen, als die, die man mal studiert habe. Und für die Arbeitszeiten gilt ähnliches: Die jungen Leute sind in die Zirkusbetriebe und die Veranstaltungen eingebunden. »Wenn morgens eine Aufführung ist, muss der Unterricht nachmittags stattfinden. Oder auch mal am Wochenende«, sagt Herzenberger.
Flexibilität verlangt der Besuch der Zirkusschule den Schülern ab: »Die Kinder müssen viel mehr selbstständig arbeiten, sich vieles selbst erarbeiten und mehr Hausaufgaben machen als andere Schüler.« Und mit denen könnten sie durchaus mithalten, betont Herzenberger.
Seit sechs Generationen ist der »Circus Monti« unterwegs. Aber dass die Zirkuskinder ihre eigene Schule haben, ist neu. Früher mussten die Zirkuskinder immer dort für ein paar Tage zur Schule gehen, wo der Zirkus gerade Station machte. Mit erheblichen Folgen für die Kinder: Häufig seien sie in den Unterricht nicht eingebunden worden, auch weil die Lehrer sich nicht um Kinder kümmern wollten, die eh nach wenigen Tagen wieder abreisten, sagt Herzenberg. Darum gebe es in den Zirkussen viele Erwachsene, die kaum oder gar nicht lesen und schreiben können.
Diesem Problem hat sich vor zehn Jahren die evangelische Kirche im Rheinland gestellt und als Träger die »Schule für Circuskinder« gegründet. Das Land NRW finanziert das deutschlandweit einzigartige Projekt, bei dem derzeit 24 Lehrer mit 18 der rollenden Klassenzimmer unterwegs sind, um den jungen Leuten eine sachgerechte Schulbildung zu ermöglichen. 120 Kinder aus 26 Familienzirkussen betreuen die Lehrer, und der Bedarf, so Herzenberger, sei eigentlich noch größer. In Nordrhein-Westfalen gebe es etwa 100 Familienzirkusse, von denen viele auf einer Warteliste der Zirkusschule stehen.
Zwei Zirkusse betreut Ralf Herzenberger, die er jeweils drei Mal in der Woche besucht. Dafür fährt er mit seinem rollenden Klassenzimmer von Dortmund aus jeweils zum Standort des Zirkus. Und der Standort bestimmt auch ein Stück weit den Lehrplan: Gibt es vor Ort ein Schwimmbad, findet der Sportunterricht dort statt, zudem werden Museen oder Burgen besucht und im Unterricht besprochen.
Und so fährt der 42-Jährige derzeit dreimal in der Woche samt Klassenzimmer nach Verl, bis der »Circus Monti« auch dort wieder sein Zelt abbaut und weiterzieht.
www.schulefuercircuskinder-nrw.de

Artikel vom 30.04.2005