20.04.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

In Prag den Russen knapp entkommen

Serie zum Weltkriegsende: Helmut Dellbrügge baut in Pilsen den zerstörten Bahnhof mit auf

Von Annemarie Bluhm-Weinhold
Steinhagen (WB). Prag, 8. Mai 1945, der Tag der Kapitulation: Deutschen Soldaten haben ihren freien Abzug ausgehandelt. In der Nacht zum 9. Mai dürfen sie die Stadt verlassen. Sie müssen Barrikaden wegräumen, aber gegen 4 Uhr ist der Weg frei. Unter ihnen ist Helmut Dellbrügge.

Der Steinhagener ist noch rechtzeitig aus Prag herausgekommen, bevor am 9. Mai die Russen einziehen - langjährige russische Kriegsgefangenschaft bleibt ihm erspart. Mit einer Gruppe ist er unterwegs nach Pilsen. Dort gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Schreckliche Erfahrungen muss er dort in den ersten Tagen und Wochen nach Kriegsende machen. Das Camp, in dem die Soldaten untergebracht sind, hat riesige Ausmaße. »In der ersten Woche haben wir gar nichts zu essen bekommen, dann gab es für 40 Mann ein Brot. Später bekamen wir dann Suppe und teilten uns zu viert ein Brot.«
Die Männer müssen hart arbeiten. »Wir haben den Bahnhof von Pilsen wiederaufgebaut«, berichtet der heute 81-Jährige. Das ist eine gefährliche Angelegenheit. Die Männer werden von Partisanen mit roten Armbinden bewacht, wie sich Helmut Dellbrügge erinnert: »Und die schossen schon mal auf Spatzen und Landser. Wir hatten jeden Tag Tote zu beklagen, bis die Amerikaner dann endlich einschritten.« Bis zum Sommer dauert die Gefangenschaft: Am 22. Juli ist Helmut Dellbrügge wieder zu Hause in Steinhagen.
Der Krieg hatte für ihn auf den Tag genau drei Jahre vor der deutschen Kapitulation begonnen: Am 8. Mai 1942 wird der damals 18-Jährige eingezogen. Der gelernte Nähmaschinenmechaniker ist fasziniert von Flugzeugen - von den JU 86 etwa, die im Anflug auf den Flughafen Gütersloh über das Elternhaus hinwegdonnern. Insofern kommt für den Steinhagener nur die Luftwaffe infrage, und noch gerade rechtzeitig kann er durch erfolgreiche Fliegertauglichkeitsprüfung seinen schon beschlossenen Einsatz in der Infanterie abwenden. Ausbildung in Sachsen, dann Bayreuth, Swinemünde, Frankreich. Bei Paris wird das Kampfgeschwader KG-6 aufgestellt, dort brauchen sie Mechaniker. Später geht es nach Belgien, 1944 nach Prag, wo die Einheit auf die modernen Düsenjäger Messerschmitt ME 262 umschult.
In Prag ist es auch, dass Helmut Dellbrügge von der Existenz der Konzentrationslager erfährt. Ein Kamerad, der einige Wochen zuvor von einer anderen Truppe aus versetzt worden war, hatte offenbar Vertrauen zu dem Steinhagener gefasst und erzählte ihm, dass er in einem KZ gewesen sei und dass dort Insassen, die nicht mehr arbeiten könnten, Juden überwiegend, umgebracht würden. Er berichtete von einem großen Raum, in den die Menschen geführt würden und in den man dann Gas einleitet. Er erzählte auch von den Öfen, in denen die Toten verbrannt werden. »Ich war total geschockt. Wenn man das Wort KZ bisher überhaupt gehört hatte, dann hatten wir uns eine Art Gefängnis für politisch Andersdenkende vorgestellt«, erklärt Helmut Dellbrügge. »Aber da war mir plötzlich die ganz andere Dimension des Geschehens klar. Ich dachte, dass man uns alle dafür zur Verantwortung ziehen würde.«
Um diese Zeit, Weihnachten '44, ist es auch, dass der junge Soldat zu ahnen beginnt, dass es mit dem Krieg zu Ende geht. »Obwohl in Prag noch alles ruhig war. Bis zum 4. Mai«, so Helmut Dellbrügge. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Die Partisanen sind überall, auch die Einheit von Helmut Dellbrügge wird in Gefechte verwickelt, und die Tschechen geben über den Sender Prag-Stadt hetzerische Parolen heraus: »Mordet die Deutschen, wo ihr sie trefft!«
In diesen letzten Kriegstagen sagt ihm sein Geschwader-Kommodore Oberstleutnant Hagebeck etwas, das er wohl nie vergessen wird: »Einige sollten diesen mörderischen Krieg überleben, damit sie der Nachwelt davon berichten können.« Das habe er sich zu Herzen genommen, erklärt Helmut Dellbrügge.
So gehört er heute zu den Aktiven, die die Ausstellung der Gemeinde zum 60. Jahrestag des Weltkriegsendes mitgestalten. Von Mittwoch, 4., bis zum 24. Mai wird sie im Rathaus zu sehen sein.

Artikel vom 20.04.2005