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Andersens Leben nicht sehr märchenhaft

Sonnenberg stellt Biographie vor

Versmold (mh). Kopenhagen, im Herbst 1819: Eine dicht bevölkerte Stadt, allein in der heutigen Altstadt leben 120 000 Menschen - heute sind es gerade 20 000. Die Straßen sind dreckig und es stinkt, besonders in den verruchten Armenvierteln. Doch für Hans Christian Andersen, zu der Zeit erst 14 Jahre alt, bedeutete diese Stadt Neubeginn und Hoffnung.

Sehr lebhaft schilderte Ulrich Sonnenberg die Verhältnisse in der Stadt und das Wesen des Hans Christian Andersen, der mit gehörigem Selbstbewusstsein und bemerkenswerter Naivität an die Türen potentieller Gönner klopfte, um sie von seinen Talenten zu überzeugen.
Ulrich Sonnenberg ist Buchhändler, freier Übersetzer und Publizist für dänische und norwegische Literatur und hat sich besonders mit dem Leben und Wirken des dänischen Autors und Dichters Hans Christian Andersen beschäftigt. Er ist Übersetzer der Biografie des Dichters, die der Däne Jens Andersen - übrigens lediglich ein Namensverwandter - verfasst hat, und er hat selbst ein Buch über den Dichter und seine Stadt geschrieben. Beide Werke und einige Märchen bildeten die Grundlage für seine Lesung am Montagabend in der Buchhandlung Krüger.
Warum also klopfte der junge Andersen so dreist an die Kopenhagener Türen? Er hoffte auf Ruhm an den Theatern der Hauptstadt. Direkt nach der Konfirmation hatte er seine Familie und seinem Geburtsort Odense verlassen, da er mit den strengen Verhältnissen nicht zurechtkam. Er wusste, was er wollte, allerdings wusste er weniger, was er konnte. Schauspielerei, Gesang und Tanz bewiesen sich als Reinfall, aber er entdeckte ein anderes Talent: Das Schreiben und Dichten. Seine ersten Theaterstücke allerdings waren nicht »spielbar«, ihnen fehlt jede Theorie der Dramatik und Sprache. Trotzdem erkannte man das Genie in ihm, insbesondere ein Jonas Collin nahm sich seiner an, bot ihm ein zweites Zuhause und vor allem eine Schulbildung.
»Er veröffentlichte ein Buch und einige Gedichtbände, doch bald stellte er fest, dass die Märchen sein Genre sind«, erzählte Ulrich Sonnenberg. Und gleich revolutionierte er es: Als erster Autor baute er Lautmalereien und Dialoge ein. Mit dem Buch »Der Improvisator« festigte Andersen seinen Ruhm.
Ein festes Zuhause hat Andersen nie lange gehabt. Besonders in der Mitte seines Lebens reiste er viel, von Nordeuropa bis Kleinasien. Wenn er in Dänemark war, speiste er bei einem festen Zirkel von Bekannten. Er badete mit dem dänischen König, kannte Robert Schuhmann und die Brüder Grimm. Doch er kannte auch die Schattenseiten des Lebens: Er war ein ängstlicher, hypochondrischer Mensch und nie sehr gut begütert. Doch vielleicht ermöglichten nur solche Erfahrungen ihm sein beliebtes Werk: Auch seine Kindermärchen sind vor allem an Erwachsene gerichtet. »Sie enthalten eine Ironie und Doppelbödigkeit, wie nur Erwachsene sie verstehen«, erklärte Ulrich Sonnenberg, der ein unverzerrtes Bild des Mannes entwarf: Eitel und anspruchsvoll ist Hans Christian Andersen gewesen, offenherzig und Zeit seines Lebens ein bisschen naiv. Zumindest bescherte ihm Kopenhagen ein Begräbnis mit bis dato unbekannten Ausmaßen.

Artikel vom 20.04.2005