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Flucht über das Haff unmöglich

Schicksalsjahr 1945: Irene Martens schreibt schlimme Erinnerungen nieder

Stemwede-Oppenwehe (WB). Irene Martens, geborene Kuhn, aus Oppenwehe (72) musste als Kind mit ansehen, wie die Russen 1945 ihren elterlichen Hof in Lenzen, Kreis Elbing, Westpreußen, niederbrannten. Für die STEMWEDER ZEITUNG schildert sie in einer Serie ihre traumatischen Erlebnisse.

Heute berichtet sie, wie die Familie mit Sack und Pack vor dem Haff steht und nicht weiterkommt, weil ein Eisbrecher die tragende Eisschicht zerstört hat.
»Die entsetzliche Angst schlug in Panik um. Jan's Wagen, der immer vor uns fuhr, war unbeschädigt. Auch die jungen Pferde Hans und Odilie blieben ruhig. Der Zug musste stehen bleiben, denn der Weg über das Eis war komplett zerstört. Hohe Eisberge, die der Eisbrecher durch das Aufbrechen der Rinne auftürmte, versperrten den Fluchtweg.
Jan verständigte sich mit Mutti, einen Ausweg nach rechts zu suchen, um vielleicht in Succase zu Muttis Elternhaus zu gelangen. Jan fand einen Weg. Er mit Pferden und Wagen voran und Mutti mit Schlitten und unserem Wallach hinterher. So waren wir dem Durcheinander von Pferden, Wagen, Soldaten und Flüchtlingen entkommen.
Der Weg zu den Vierhufen, dem Hof von meinem Opa Gottfried Dobrick und dem Elternhaus meiner Mutti, war lang. Weit von Succase entfernt. Ich schätze ihn auf zwei bis drei Kilometer. Es wollte schon dunkel werden. Unser Manfred, der am Anfang immer schlief und in einer Pelzdecke warm eingepackt war, wurde wach. Er schrie. Und wir konnten ihn nicht wieder beruhigen. Hatte er Hunger oder waren seine Leistenbrüche wieder ausgetreten? Unsere Sorge um ihn überschattete die ohnehin schon schwierige Lage.
Nach längerem Fahren kamen wir zu dem so genannten Hohlweg, der zu den Vierhufen führte. Viel Schnee war durch seine tiefe Lage hineingeweht. Es waren aber Spuren da, denen man nachfahren konnte. So kamen wir endlich bei unseren Großeltern Gottfried und Anna-Regina Dobrick an. Auf dem Hof stand zwischen Scheune und Stall unser Wagen. Papa hatte es auch geschafft und nahm uns glücklich in Empfang. Seine beiden Pferde standen im Stall und fraßen Heu. Auch die anderen drei Pferde wurden ausgespannt und bekamen einen Platz im Stall, an dem sie sich erholen und stärken konnten.
Wir waren schon im Haus bei Oma, wo wir zu essen bekamen und uns aufwärmen konnten. Der Abend war angebrochen, und nachdem Manfred seine Flasche getrunken hatte und trockengelegt war, beruhigte er sich auch.
Papa, Jan und Anton beschlossen mit einem Wagen durch den Pauklauer Wald zu uns nach Hause auf den Fuchsberg zu fahren. Die Sorge um die Kühe, die gemolken werden mussten, und das andere Vieh, ließ ihnen keine Ruhe. So fuhren sie in stockdunkler Nacht zu uns nach Hause. Wir anderen blieben bei meinen Großeltern. Am anderen Morgen kam Papa zu Fuß und holte uns samt Pferde, Schlitten und Wagen ab. So waren wir alle wieder zu Hause.
Die Flüchtlingstrecks wurden weniger. Ob die Flüchtlinge aus dem hinteren Teil Ostpreußens wohl nun einen anderen Weg nahmen?
Am 24. Januar 1945 kamen nun die deutschen Soldaten, die an der Ostfront zurückgeschlagen wurden. Viele klopften bei an unserer Tür , um um etwas zu Essen und zu Trinken zu bitten (wird fortgesetzt).

Artikel vom 15.04.2005