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Der Fluchtweg
ist versperrt

Erinnerungen von Irene Martens

Opppenwehe (WB). Irene Martens, geborene Kuhn, aus Oppenwehe (72) musste als Kind mit ansehen, wie die Russen 1945 ihren elterlichen Hof in Lenzen, Kreis Elbing, Westpreußen, niederbrannten. Für die STEMWEDER ZEITUNG schildert sie in einer Serie die schreckliche Zeit.
Irene Martens hat sich ein Herz gefasst und die düsteren Erinnerungen aufgeschrieben.

»Nun standen wir am Ende unseres Weges und wollten uns mit in den langen Treck einreihen. Aber keiner machte Platz. Plötzlich hielt jemand an, und Papa und Anton reihten sich mit dem Wagen ein. Wir kamen nicht mit. Wie lange wir gestanden haben, weiß ich nicht. Da ließen plötzlich Soldaten eine Lücke und wir konnten uns mit Wagen und Schlitten in den Flüchtlingstreck einreihen.
Auf dem Schlitten waren Mutti, Herbert, Hanna, Manfred und ich. Der Wallach, der den Schlitten zog, war schon 23 Jahre alt. Man konnte mit ihm sprechen und er schien alles zu verstehen. Wenn schlechtes Wetter war, fuhren wir Kinder mit ihm zur Schule. Zurück ging er allein. Ich war von klein an ein großer Pferdeliebhaber. Überhaupt das Vieh interessierte mich schon immer. Eine Leidenschaft, die ich wohl von meinem Vater geerbt habe.
Papa hatten wir aus den Augen verloren. Wo war er wohl? Wir waren durch Lenzen gefahren und bewegten uns in Richtung Succase und Haff. Da kamen Flugzeuge und schossen auf die Flüchtlinge. Viele wurden getroffen. Pferde wurden wild oder fielen tot um. Wagen zerbrachen und mussten aus dem Weg geräumt werden. Panik brach aus.
Nun kam die Angst. Ist Papa wohl getroffen worden? Jan fuhr mit dem Wagen vor uns. Die Pferde blieben ruhig. Trudchen und Lieschen zogen den Wagen von Papa. Sie waren kurz davor, ein Fohlen zu bekommen.
Es kamen noch mehr Flugzeuge. Mit Bordkanonen beschossen sie die Flüchtlinge, die sich schon auf dem Eis, der letzten Rettung vor den Russen, befanden. Was sollten wir machen? Immer wieder kam der Treck zum Stehen, weil Tote und Verletzte den Weg versperrten. Es liefen auch wild gewordene Pferde herum. Manche hatten nur noch die Deichsel ihrer Wagen hinter sich. Wo war wohl das Gefährt mit den Besitzern geblieben?
Nun waren wir kurz vor dem Haff. Papa war immer noch nicht zu sehen. Da sah Mutti, wie sich Eisberge auftürmten. Ein Eisbrecher versperrte nun den Fluchtweg quer über das Haff. Eine weitere Flucht über diesen Weg war nicht mehr möglich. Die Geschosse der Flugzeuge peitschten weiter durch die Luft. Wie vielen Leuten wurde die Hoffnung auf eine Flucht vor der russischen Armee zunichte gemacht? Wie viele vor Hunger und Kälte erstarrte Menschen haben durch den Kanonenhagel ihr Leben lassen müssen? Tiefes Donnergrollen der Geschütze aus Richtung Elbing kam immer näher.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.04.2005