09.04.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Weinend um Mutter versammelt

Schicksalsjahr 1945: Irene Martens schreibt schlimme Erinnerungen nieder

Oppenwehe (WB/weh). Düstere Erinnerungen kehren in diesen Tagen bei jenen Menschen zurück, die 1945 in den deutschen Ostgebieten vor der Roten Armee fliehen mussten. Irene Martens, geborene Kuhn, aus Oppenwehe (72), geboren in Lenzen, Kreis Elbing, Westpreußen, schildert in einer Serie ihr Schickal.

»Wir können doch nicht ohne unseren Vater weg. Und unser Vieh, was soll bloß noch werden?« Mutti weckte alle. Ratlos standen wir in der Küche. Da klopfte es an der Waschküchentür. Es war unser Papa. Im hohen Schnee hatte er sich wie ein Fahnenflüchtiger vom Volkssturm entfernt. Nun die große Entscheidung: Sollten wir flüchten und alles im Stich lassen? Unser kleiner Bruder Manfred war erst ein Jahr und vier Monate alt. Er war krank und hatte außerdem einen doppelseitigen Leistenbruch. Unsere große Sorge galt diesem kleinen Kind.
Im Stall brüllten die Kühe. 13 Stück wollten gemolken werden. Papa ging die Pferde füttern und die anderen gingen melken und das übrige Vieh versorgen. Mutti saß auf der Ofenbank, hatte unseren kleinen Manfred auf dem Arm. Wir standen um sie herum und weinten. Obwohl wir Kinder waren, machte sich tiefer Ernst in unserem Leben breit. Alles hier verlassen? Alles Schöne, was unser Elternhaus bedeutet hatte, verlassen.
Es wurde hell. Aus Richtung Rehberg kommend war die Straße voll. Wagen an Wagen fuhren die Flüchtlinge. Menschen zu Fuß mit Hand- und Kinderwagen, auf denen sie ihre letzte Habe transportierten. Da kam mein Papa rein und sagte: »Ich spanne an, macht euch fertig.«
Auf dem Hof waren Jan und Anton. Sie luden Heu auf einen Wagen. Auf den anderen Wagen mit Dach war der Herd geladen worden. Das Dach bestand aus Bindemäherlaken und oben guckte das Rohr des Ofens raus. Wir zogen uns an. Alle Pelzdecken, Mäntel und Stiefel wurden auf den Schlitten geladen, um uns vor der großen Kälte zu bewahren. Alle fünf Pferde waren angespannt. Den Schlitten mit unseren Habseligkeiten sollte unser alter Wallach ziehen, weil dieses Gefährt am leichtesten war.
Nun sollte es losgehen. Mutti ging noch mal in alle Räume und schloss ab. Doch das Schloss ließ sich nur schwer bewegen. Am Tag vorher war noch Brot gebacken worden, wohl für die Flucht, und durch den Dunst und die klirrende Kälte (minus 20 Grad) hatte sich wohl Reif im Schloss gebildet.
Papa kam kreidebleich aus dem Stall. Er hatte sich im Stillen vom Vieh verabschiedet. Nun stiegen wir auf die Wagen, noch ein letzter Blick, und es ging los. Die Pferde sackten im hohen Schnee fast bis an die Knie ein. Wir kamen kaum vorwärts.
Der alte Wallach guckte immer nach hinten. Als wenn er sagen wollte: »Bleibt doch hier.« (wird fortgesetzt).

Artikel vom 09.04.2005