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In ihren Augen sah er richtig winterfein aus. Ihm fehlte nur noch eine Melone, ein schwarzer, maßgeschneideter Überzieher mit Samtkragen. In seinen auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhen, versehen mit einem schlanken Regenschirm, wäre er glatt als ein Londoner Geschäftsmann durchgegangen.
Cappella sah plötzlich auf und betrachtete Livia mit kühlem Blick. Ohne Umschweife kam er auf den wichtigsten Punkt zu sprechen. »Sie haben Glück, Frau Romano. Wie ich sehe, sind Ihre Unterlagen in Ordnung, und wir haben von unserem Pfandrecht noch keinen Gebrauch gemacht. Wenn Sie bereit sind, die noch ausstehenden Gebühren zu begleichen, steht einer Besichtigung nichts mehr im Wege.«
Livia fiel ein Stein von der Seele. »Oh, keine Frage. Gern begleiche ich die fälligen Kosten.« Sie griff in ihre Handtasche, entnahm ihr Kuvert und legte es auf den Schreibtisch. »Hier! Der Betrag Ihrer Rechnungen und die Kosten für die kommenden drei Monate im Voraus.«
Cappella nahm das Kuvert an sich. »Damit wären die Formalitäten erledigt, Signora Romano. Was mich allerdings etwas verwunderte, waren einige mysteriöse Anrufe in den letzten zwei Wochen, die sich auf das eingelagerte Objekt bezogen. Nichts Erfreuliches in diesem Geschäft. Können Sie mich über die Hintergründe aufklären?«
»Anrufe? Hintergründe? Nicht, dass ich wüsste, Herr CappellaÉ«
»Wer war der Anrufer?«, fragte Duncan dazwischen, was Livia eine Denkpause verschaffte.
»Verzeihen Sie, Mr. Munro, ich möchte Signora Romano dazu unter vier Augen sprechen.«
»Herr Cappella, Mr. Munro besitzt mein volles Vertrauen. Er ist über alle Dinge informiert und nimmt alle meine Interessen wahr. Wir können offen miteinander sprechen.«
»Wie Sie wollen, Signora. Der Anrufer war offenbar ihr Mann.«
»Was wollte er?«
»Er wollte wissen, ob sein Bild von Ihnen schon in Augenschein genommen worden ist. Außerdem erkundigte er sich nach Ihrem Besuchstermin, den er mit seiner Anreise koordinieren wollte.«
»Davon weiß ich nichts. Aber haben Sie ihm mitgeteilt É?«
»Nein. Wir wahren grundsätzlich Diskretion, wenn wir vermuten, dass sich die Geschäftsgrundlagen gegenüber unseren Vertragspartnern geändert haben.«
Livia atmete einmal langsam durch und vermied eine Bemerkung.
»Was ich ihm natürlich mitgeteilt habe, war unsere dringende Bitte, die Miete zu bezahlen. Er stellte die Begleichung bei seinem Kommen in Aussicht. Aber das hat sich ja inzwischen erledigt. Die rechtmäßige Besitzerin des bei uns eingelagerten Objekts sind offenkundig Sie«, bemerkte Cappella mit einem flüchtigen Lächeln.
»Ich freue mich sehr, Herr Cappella, dass wir alle Unstimmigkeiten ausräumen konnten. Können wir nun das É Objekt besichtigen?«
»Natürlich, Signora.«
Als sie wieder den Vorraum betraten, winkte Cappella die zwei Packer zu sich, die ihre Zigaretten ausdrückten und ihre Schirmmützen über der Stirn zurechtschoben und ihnen wortlos folgten.
Cappella führte sie nun durch die weiträumige Frachthalle bis zu einem Tor, dessen Schranke geschlossen war. Seitlich davon stand ein Zollbeamter. Ohne weitere Formalitäten passierten sie die unsichtbare Zollgrenze.
Das nördliche Einfahrtstor war zur Seite gerollt. Livias Blick fiel auf den Rumpf eines Flugzeuges, der gerade beladen wurde. Keine zwanzig Meter vom Gebäude entfernt begann das Flugfeld.
»Hier kommen Transporte aus aller Welt an«, erklärte Cappella beiläufig, der Livias staunenden Blick bemerkt hatte und nun die Tür zu einem Treppenhaus aufschloss, »und in diesem Gebäudekomplex hüten wir alles das, was unsere Klienten länger zu deponieren wünschen.«
»Darf ich Sie fragen, was Sie unter ÝlängerÜ verstehen?«, fragte Duncan, während sie eine Steintreppe ins Untergeschoss hinabstiegen.
»Eigentlich, so lange sie wollen. Gewissermaßen unbegrenzt, wenn die Gebühren dafür bezahlt werden.«
»Und wenn ein Einlieferer tatsächlich nichts mehr von sich hören lässt?«, fragte Duncan mit einem Seitenblick zu Livia.
»Wir sind da recht kulant, Mr. Munro, wie Sie heute selbst erleben konnten. Doch wenn über einen längeren Zeitraum keine Zahlungen mehr erfolgen, dann findet eine Sicherung unserer Ansprüche an den Objekten statt. Das ist bei uns nicht anders als überall auf dieser Welt«, meinte Cappella. »Seltener erleben wir, dass Leute unberechtigt hier hereinkommen wollen. Erbstreitigkeiten, Pfändungen von Gläubigern, ungebetene Kunstvermittler! Doch wie Sie gleich sehen werden, sind die Objekte bei uns in bester Sicherheit.«
War die Luft draußen knackig kalt, so war es hier unten, zwischen meterdicken Bunkerwänden, angenehm temperiert. Sie erreichten eine Eisentür, die eine massive Verriegelung aufwies und zusätzlich mit einem Nummernschloss gesichert war, das Cappella mit flinken Fingern codierte.
»Das hier war übrigens das alte Goldlager der Schweiz«, erklärte er stolz.
Die Tür entpuppte sich als eine wuchtige, mit dicken Metallbolzen gesicherte, schwere Safetür. Im Licht der aufflackernden Neonröhren blickte Livia in einen schnurgeraden, scheinbar nie endenden Kellergang. Über ihnen verliefen in der vollen Deckenbreite Versorgungsleitungen, verkleidete und unverkleidete Röhren und Kabel. Die grauen Betonmauern waren in gleichmäßigen Abständen von Metalltüren unterbrochen.
Sie gingen etwa vierzig Meter tief in den Hauptgang hinein. Livia deutete auf die Beschriftungen an den Türrahmen. »Können Sie mir verraten, was K14 bedeutet?«
»K14 heißt Kabine 14«, sagte Cappella trocken und schloss mit einem weiteren Sicherheitsschlüssel die Kabine vor ihnen auf, »und von diesem Stichgang aus gelangen Sie nochmals in fünf weitere Lagerräume.«
»So weitläufig hatte ich mir das nicht vorgestellt.«
»Uns ist wichtig, dass unsere Kunden Vertrauen gewinnen. Ohne Berechtigung wird sich hier niemand Zugang verschaffen können. Allein die Betondecken über uns sind unüberwindlich. Sie können es sich sicher vorstellen, Einbrecher haben hier absolut keine Chance. Auch vor Feuer und Wasser sind wir hier hundertprozentig geschützt, was die teuren Versicherungen überflüssig macht.«
»Und was ist hier alles eingelagert?«, fragte Livia neugierig.
»Alles, was sicher deponiert sein muss und morgen schon ohne Formalitäten und komplizierte Versicherungsfragen unbehindert ins Ausland verkauft, verliehen oder einfach an einen anderen Ort verbracht werden soll. Von Erfindungen bis zu Kunstwerken, von wertvollen Maschinenteilen bis hin zu Diamanten und ganzen Sammlungen alter Uhren. In der Schweiz ist der Verbleib von Einfuhrgütern - wie in unserem Sonderdepot - zeitlich unbegrenzt möglich, während in den meisten europäischen Ländern nach einer bestimmten Frist Einfuhr- oder Zollhinterlegungsgebühren erhoben werden.«
»Das macht Sie bei vielen wertvollen Handelswaren natürlich zu einer gefragten Anlaufadresse«, bemerkte Duncan.
»Das kann man so sagen. Wir bedienen Wünsche aus allen Erdteilen. Bei uns haben Kunden aus Kuwait, aus Singapur, aus Bordeaux oder New York ganze Räume komplett gemietet.«
Sie waren vor einer grün gestrichenen Tür angekommen, wo Cappella wiederum unauffällig seinen Codeschlüssel auf ein seitlich des Türrahmens angebrachtes Zahlentableau eintippte. Livias Pulsschlag erhöhte sich. Die Tür gab den Eintritt in die Schatzkammer frei.
Nacheinander traten sie ein. Am Schluss folgten die beiden Helfer. Cappella knipste das Licht an und ging voraus.
Stützregale in verschiedenen Größen fielen Livia ins Auge. Behältnisse aus Kunststoff und Metall und Kisten in allen Formaten und Größen waren in diesem Raum überschaubar verstaut.
Livia sah sich um. Sie suchte nach dem passenden Format. Sie wusste, in einer der flacheren Holzkisten musste ihr Velázquez stecken. Ihr war klar, dass dieses Bild, aufgespannt auf einen zerbrechlichen Holzrahmen, ihr Leben entscheidend beeinflussen konnte. Ihre bis dahin unterdrückte Nervosiät brach sich Bahn: »Und wo ist es? Wo ist mein Bild?«, platzte sie heraus.
Cappella blickte stoisch auf seine Unterlagen und ging langsam eine Reihe von schrankhohen Holzkisten ab. Gewissenhaft verglich er die Nummern auf den aufgeklebten Papieretiketten. Dann blieb er stehen. Ein letzter Vergleich. Livia stockte der Atem É
»12847. Hier, die grün gestrichene!«
Als die zwei Packer mit geübten Griffen die schwere Klimakiste vorsichtig aus dem Block von Behältnissen hievten, nahm Duncan Livia bei der Hand, während sie sich an seine Schulter anlehnte.
Bald hatten die beiden Männer alle Klebebänder entfernt, die Schrauben an den vier Ecken gelockert und waren dabei, vorsichtig die Frontplatte herauszudrücken. Schließlich hoben sie sie ab und fassten das breitformatige Bild an beiden Schmalseiten an, um es langsam herauszunehmen. Dabei fiel ihr Blick auf einen Gegenstand, der, in braunes Packpapier eingeschlagen, der unteren Hälfte der Kiste beigelegt war. Das Objekt hatte die Größe eines Buchformats. Ein Helfer nahm den Gegenstand heraus und reichte ihn Duncan. Er nahm ihn entgegen, doch seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt dem Bild. Noch war für ihn und Livia nichts erkennbar, da die Leinwand vollständig in Seidenpapier eingeschlagen war.
»Signora Romano, ich schlage Ihnen vor, dass Sie das Stück in unserem Präsentationsraum in Augenschein nehmen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.05.2005