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Von Frank Spiegel

Höxteraner
Aspekte

Mit dem Mut der Verzweiflung


Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein: Im Kreis Höxter meldeten fast 1 200 Personen im Jahr 2004 ein neues Gewerbe an. Im Vorjahr waren es etwa 1 000. Ein Grund zur Freude? Der Kreis Höxter als Jungbrunnen einer lahmenden Wirtschaft, als aufheulender Konjunkturmotor, der im Zentrum Deutschlands Aufbruchstimmung vermittelt?
Das wäre zu viel gesagt.
Wer diese Zahlen, die die Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld in dieser Woche vorgelegt hat, grundsätzlich als Grund zur Freude sieht, liegt falsch. Sie zeigen zwar, dass viele Menschen im Kreis ganz offensichtlich Mut haben -Êaber: Das ist der Mut der Verzweiflung. Viele, die ihr Heil in der Existenzgründung suchen, tun dies nicht mit Leib und Seele, nicht, weil sie schon immer selbständig sein wollten. Sie tun es aus nackter Angst. Aus nackter Angst vor Hartz IV und seinen Folgen. Aus nackter Angst, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Aus nackter Angst, ins Nichts abzurutschen, alles zu verlieren.
Allen fast 1 200 Menschen, die diesen Schritt gehen, ist der Erfolg zu gönnen -Êaber realistisch betrachtet werden diesen nicht alle haben können. IHK-Untersuchungen haben ergeben, dass nach fünf Jahren noch etwa die Hälfte der Neugründungen am Markt vertreten war. IHK-Fachleute vermuten, dass die »Floprate« im Moment »etwas höher« liegen dürfte.
Ein großer Teil der Gründungen war nur durch Fördermittel möglich -Êetwa durch die so genannte Ich-AG. 70 Prozent aller Existenzgründungsberatungen der IHK wurden mit Arbeitslosen geführt -ÊÊvom Ungelernten bis zum Akademiker. Da drängt sich doch die Frage auf: Wie viele dieser fast 1 200 Existenzgründer sind in Wirklichkeit nur »getarnte« Arbeitslose, die irgendwann wieder in der Statistik auftauchen? Die Zeit wird es zeigen.
Aber: Wir im Kreis Höxter können unseren Teil dazu beitragen, dass der Anteil möglichst gering liegt. Nur wir können die IHK-Vermutung einer »etwas höheren Floprate« möglicherweise gar ins Gegenteil umkehren. Zeigen wir uns solidarisch mit den Menschen, die sich mit dem Mut der Verzweiflung in das Abenteuer ihres Lebens gestürzt haben und nutzen wir ihre Angebote.
Mut macht der hohe Anteil der Gründungen in der Industrie, die nicht aus Verzweiflung oder Angst erfolgt sein dürften. Hier können sich neue Arbeitsplätze entwickeln -Êwenn die Nachfrage stimmt. Und die bestimmen wir.

Artikel vom 09.04.2005