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Gegen das Vergessen: »Es gibt noch viel Ungesagtes«

Rosemarie Czitrich möchte Erfahrung weitergeben

Von Reinhard Kehmeier
Espelkamp (WB). »Wichtig ist, nichts zu verleugnen«, sagt Rosemarie Czitrich, geborene Sailer. Die 68-Jährige machte als Kriegskind und Vertriebene schlimme Erfahrungen. Davon will sie erzählen und gern auch in den Schulen Vorträge halten.

Seit der eigenen Familiengründung vor 45 Jahren lebt sie in Isenstedt, engagiert sich heute unter anderem im Seniorenbüro und ist Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen. Die Vergangenheit lässt sie nicht los. »Vieles wurde verdrängt«, hat sie erkannt, »doch es gibt noch soviel Ungesagtes. Viel zu viel.« Erst im Rentenalter kann sie über die schreckliche Zeit reden, sechs Jahrzehnte nach der Vertreibung. Es ist ihr ein großes Anliegen, dass die übrig gebliebenen Zeitzeugen erzählen, ihre Lebensgeschichte aufschreiben. Und sie trauert besonders über den Tod einer älteren Tante, die sie heute gern näher befragen würde. Dazu, was früher immer verschwiegen wurde. So hat es auch ihre Mutter gehalten und nie gesprochen über die schrecklichen Torturen im Lager Potulice. Aber sie hat gespendet für ein Zentrum für Vertreibung in Berlin, ebenso wie ihre Tochter das Vorhaben unterstützte: »Wir müssen die Toten in Ehren halten und an Unrecht erinnern«.
Jene Tante übrigens, die wie Rosemarie Czitrich in Posen lebte, gehörte der aus Isenstedt 1905 dorthin ausgesiedelten Familie Viermann an. Und die beiden Verwandten sahen sich nach der Vertreibung oder Rückkehr hier zum ersten Mal. »Eine wahrhafte Fügung« ist Rosemarie Czitrich überzeugt über den Wink des Schicksals.
Heute forscht sie nach den Ahnen und möchte wissen, wie es zur Ansiedlung im Osten kam. Wenn Rosemarie Czitrich erzählt, wird deutlich: Die Wut des kleinen Mädchens, dem ein Paradies genommen wurde, ist noch heute gegenwärtig.
Bis 1741 hat die Isenstedterin ihre Familiengeschichte bereits zurückverfolgen können. Seit beinahe 300 Jahren haben die Nachfahren des Alt-Lutheraners Johann Jakob Manthei in der preußischen Provinz Posen gelebt, zuerst in Schwesens, kleiner Industriestadt. Der Urgroßvater heiratete auf einen großen Besitz in Bärenbusch, Kreis Wongrowitz. Er war Dorfschulze und vererbte den Hof einer der Töchter. Die Geschwister waren gut verheiratet: »In jedem Dorf saß Verwandtschaft.« Auch die Mutter von Rosemarie Czitrich war Hoferbin. Als die Provinz Posen polnisch wurde, sollten die Brüder dort zur Armee und sie gingen »ins Reich«.
Nicht nur der deutsche Uberfall von 1939 führte zum Unheil. Es begann früher, nach dem Versailler Vertrag, ist Rosemarie Czitrich überzeugt. Schon vor dem Krieg wurden die Hofeigentümter drangsaliert: »Sie mussten doppelt soviel Soll zahlen als polnische Bauern«. Deutsche Schulen wurden geschlossen. Die Lehrer flüchteten. »Die Zeit von 1920 bis 1939 unter der polnischen Regierung wird zu wenig erwähnt«, findet Rosemarie Czitrich.
Besonders die Deutschen evangelischen Glaubens seien drangsaliert worden, auch wenn sie längst polnisch sprachen. Davon bekam sie als kleines Mädchen nichts mit und erlebte eine frohe Kindheit. Dann kam der 20. Januar 1945. Plötzlich war alles anders. Die Achtjährige hatte einmal bereits im Saal des Gasthauses im Stroh lagernde Flüchtlinge gesehen. Mütter, Kinder, alte Leute, nach langem Marsch aus Ostpreußen. Und sie war entsetzt. Dann traf es sie selbst.
Russen holten das Vieh, köpften grölend die Hühner. Dann holten die Polen Möbel und Geschirr. Die Eigentümer wurden mit dem Bajonett von der Miliz vertrieben. Zwei Familien nahmen das Haus in Besitz. Die 34-jährige Mutter wurde ins Konzentrationslager Potulice verschleppt, kehrte später schwer geschunden und seelisch zerbrochen zurück. Rosemarie, älteste Tochter, musste Kühe hüten auf dem Friedhof neben ihrem einstigen Hof: »Es war schrecklich. Ich habe immer aufgepasst, dass die Tiere nicht auf unsere Gräber trampelten.«
Fünf kleine Kinder waren vater- und heimatlos, wurden jetzt polnisch unterrichtet. Dann kam das Lager im Kreis Osterburg. »Wir Kinder mussten betteln gehen, es war ganz schlimm. Wenigstens bekamen wir im Lager eine warme Suppe.«Als die Familie wieder zusammenfand im Lager war die Mutter nicht mehr wiederzuerkennen. Der Vater kam schwer verwundet aus der Gefangenschaft zurück und starb nach dem Wiedersehen mit 34 Jahren bei unzureichender Versorgung an den Kriegsfolgen. Mutter und Kinder erhielten eine zynische Bescheinigung: »Sie dürfen ausreisen«. Die Odyssee endete nach mehreren Stationen vorerst in Stendal. »Wir konnten gerade in der DDR niemanden anvertrauen, was wir ertragen haben«, erinnert sich Rosemarie Czitrich, »aber wir haben viel gebetet, in all den Jahren.«1953 flüchtete die 16-jährige Rosemarie in den Westen, erlebte neue Lager. Die Mädchen wurden an Haushalte verteilt: »Wie gut, dass damals der Bedarf an Hausmädchen bestand.« Eine Tante lebte in Tonnenheide, selbst Witwe und Vertriebene mit fünf Kindern. Die Verwandte war Kontaktperson für Rosemarie, die in Bünde im Haushalt tätig war, später im Herforder Krankenhaus. Und an den Feiertagen ging es stets zur Familie. So lernte sie beim Tanzen in Tonnenheide ihren Mann kennen. »Trotz allem habe ich Glück gehabt«.

Artikel vom 06.04.2005