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Lange Flucht endet in Borgholzhausen

Zwei Schlesierinnen erzählen - Ingeborg Boers und Karin Steinweg stammen aus Peterwitz

Von Katrin Niehaus
Borgholzhausen (WB). Ob in Peterwitz oder in Westbarthausen, die meiste Zeit ihres Lebens haben sie nur rund 300 Meter auseinander gewohnt. Ingeborg Boers geb. Günther war 14 Jahre alt und Karin Steinweg geb. Jungnitsch fünf, als sie ihre schlesische Heimat nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges verlassen mussten. »60 Jahre danach« - zwei Fluchtgeschichten, die in Borgholzhausen endeten.

Beide Frauen gehören zur »Dorfgemeinschaft Peterwitz/Kolbnitz«, die Herbert Linke vor 31 Jahren ins Leben gerufen hatte. »Mehr als 100 Peterwitzer strandeten nach dem Krieg im Altkreis Halle. Wir hatten Glück, dass wir nicht erst 1989 in die Freiheit ÝentlassenÜ wurden. 1946 endete die Flucht für viele unserer früheren Nachbarn in Freital bei Dresden«, erzählt Karin Steinweg.
Die 64-Jährige war inzwischen viermal in ihrer alten Heimat Niederschlesien. Die nächste Reise ist für Mai geplant, denn dann wird das 100-jährige Bestehen der Oberschule Peterwitz gefeiert und ein Stein zum Gedenken an die deutschen und polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges aufgestellt. »Unserer Dorfgemeinschaft ist es wichtig, dass wir zu den jetzigen Bewohnern ein gutes Verhältnis haben«, sagt Karin Steinweg. Ihr würden die Reisen in die schlesische Heimat nicht schwer fallen, denn sie sei im Sommer 1946, als die Deutschen Peterwitz endgültig verlassen mussten und von den Polen ausgewiesen wurden, noch sehr jung gewesen und könne sich kaum daran erinnern.
Ganz anders sieht das bei Ingeborg Boers aus. »Ich war zweimal drüben. Doch das hat mich so mitgenommen, dass mein Arzt mir empfohlen hat, nicht mehr nach Peterwitz zu fahren«, erklärt die 73-Jährige. Mehr als ein Jahr lang war sie mit ihrer Familie auf der Flucht. Sie erinnert sich noch ganz genau daran, als die russischen Soldaten am 12. Februar 1945 nach Peterwitz kamen: »Unser Pferdewagen stand schon bereit. Als wir losfuhren, schrie das Vieh. Der Schnee lag meterhoch.«
Die Familie floh nach Süden ins Riesengebirge und landete zunächst im schlesischen Ruhbank. Ein Vierteljahr später, nachdem die Russen auch dort waren, kehrten die Günthers wieder nach Peterwitz zurück. Ihr Hab und Gut war jedoch geplündert worden. Im Juli wurden sie erneut aus ihrem Haus herausgeworfen. »Mein Vater bekam Arbeit bei einem Polen und später bei den Russen. Wir blieben noch ein Jahr in Peterwitz und Umgebung. Doch dann haben sie uns endgültig vertrieben«, erzählt Ingeborg Boers.
In der Kreisstadt Jauer hätten sie mehrere Tage in Viehwagons hausen müssen, ohne etwas zu essen zu bekommen. »Dann ging es im geschlossenen Güterwagen gen Westen. Ich dachte, ich ersticke. In Hoyerswerda/Kohlfiert sind wir entlaust worden und dann mit einem Personenzug zur Flachsröste nach Künsebeck gebracht worden«, so die 73-Jährige. Zwei Wochen wurde die Familie Günther im Jägerkrug in Borgholzhausen untergebracht und fand dann eine Bleibe bei Bauer Köppen in Casum, wo die Günthers einige Jahre lebten.
Karin Steinweg traf ihr früheres Kindermädchen Ingeborg Günther erst einige Zeit später wieder. Auch ihre Familie war zunächst mit Pferd und Wagen aus Peterwitz geflohen und dann zurückgekehrt. Nach der endgültigen Ausweisung im Sommer 1946 landeten die Jungnitschs jedoch zunächst im Lager Freital bei Dresden. Karin Steinweg: »Meine Tante war in Borgholzhausen, und wir sind dann 1947 illegal über die Grenze gegangen. Hätten wir das nicht gemacht, dann hätte ich viele Jahre lang in der DDR festgesessen wie viele andere Peterwitzer.«

Artikel vom 05.04.2005