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Das junge Herz
im alten Turm

Von Klaus Wilhelm


Die folgende Kurzgeschichte verfasste Klaus Wilhelm vor 50 Jahren. Er schreibt über einen Turmwärter, der entdeckt, dass der Frühlingsanfang nicht vom Kalender abhängt.

Der alte Mann öffnete die Tür des kleinen, grün gestrichenen Bretterhäuschens. Drinnen roch es dumpf. Der Staub des Windes lag auf dem zusammengeklappten Sonnenschirm, den wenigen Stühlen und den leeren Kisten, die an der Rückwand gestapelt waren.
Der Mann trug alles ins Freie. Dann stieg er auf eine feste Kiste und nagelte ein weißes Schild mit scharfer Schrift an die Stirnwand des Häuschens. Erfrischungen, stand darauf und kleiner darunter: Turmbesteigung zehn Pfennig, Schlüssel beim Wärter. Und ganz klein sein Name: Hubert Kausch.
Nun war es wieder so weit: Der alte Mann trat zurück, um zu prüfen, ob das Schild auch gerade hänge. Zwölf Jahre saß er schon hier oben. Zwölf halbe Jahre, wenn man genau sein will. Denn im Winter lohnt es nicht.
Er holte einen Eimer voll Wasser aus der Regentonne und ging daran, die Stühle abzuseifen. So bemerkte er den Mann und die Frau nicht, die aus dem Walde traten und über die Wiese auf den Turm zugingen. Erst als er ihre Stimme hörte, wandte er den Kopf und sah, dass sie noch sehr jung waren. Der Mann bat um zwei Flaschen Sprudel oder zwei Glas Apfelsaft, ganz gleich, sie hätten Durst.
»Tut mir leid«, sagte Kausch, »der Wagen, der mir etwas heraufbringen soll, kommt erst morgen. Ist noch zu früh, wissen Sie, will ja erst noch Frühling werden.«
»Es ist Frühling«, sagte das Mädchen. »Auf dem Kalender, kleines Fräulein, auf dem Kalender!« »Warum wollen Sie es nicht wahr haben?«
»Weil es nicht stimmt. Ein paar Schneeglöckchen, vier, fünf Anemonen irgendwo im Gehölz, das ist zu wenig.«
Der junge Mann blickte zum Turm und fragte, ob er den Schlüssel haben könne. Kausch zog ihn aus der Tasche. Dann ging er wieder daran, die Stühle abzuseifen.
Später brachte der junge Mann den Schlüssel zurück. Er wartete nicht, bis ihm Kausch auf sein Fünfzigpfennig-Stück herausgegeben hatte, sondern sprang in langen Sätzen dem Mädchen nach, das über die Wiese zum Waldrand lief. Der Alte wog den Schlüssel zögernd in der Hand. Dann ging er die wenigen Schritte zum Aussichtsturm und schloss die Bohlentür auf, die sich knarrend in den Angeln drehte. Schritt für Schritt zog er sich die engen Windungen der Wendeltreppe hinauf. Ihn fror. Die grauen Steine waren feucht und kühl.
Als er aus der oberen Tür ins Freie trat, musste er mit beiden Händen nach dem Hut greifen. So wehte es. Er stieg nicht oft hier herauf. Zweimal im Jahr vielleicht, dreimal, wenn es hoch kam. Es strengte ihn an.
Einmal umschritt der Alte die obere Plattform des Turmes. Er sah die Namen, die in die grauen Steine geritzt waren, Zahlen, Worte, Pfeile. Und dann bemerkte er ein Herz, das heller war, als die anderen. Ein Datum stand daneben. Das Datum dieses Tages und dieses Jahres.
Der alte Mann lächelte. Er dachte an die beiden, was sie übermütig einander nachgerannt waren. Er sah auf die Stadt. Der Fluss zog sich grau zwischen Wiesen hin, denen noch die Farbe fehlte. Dann blickte er über den Wald, und auf einmal sah er den ersten Hauch von Grün, der wie ein feiner, zarter Schleier über den Wipfeln hing. Sein Zeigefinger fuhr der Linie des eingeritzten Herzens nach. Sie haben ja recht, die beiden, dachte er, es ist tatsächlich Frühling. Und diese Entdeckung machte ihn so übermütig, dass er etwas tat, was einem alten Mann, den drei Enkel Großvater nennen, schwerlich gut ansteht. Er beugte sich vor und spuckte in die Tiefe. Wahrhaftig, er tat es.
Und dann lachte er.
Über sich selbst und diese wunderliche Jahreszeit.

Artikel vom 23.03.2005