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Das Wort zum Sonntag

Pastor Siegfried Schink, Pastoralverbund Nethegau

Pastor Siegfried Schink
»Hosianna!« und »Kreuzige ihn!«. Es ist kaum zu bezweifeln, dass es sich weitgehend um den gleichen Personenkreis handelte, der sich innerhalb kürzester Zeit umpolen ließ von grenzenloser Begeisterung zu ebenso grenzenloser Verwerfung. Zeitlos enthüllen die Ereignisse der letzten Tage Jesu auch die Tragik unseres eigenen Menschseins.
In der kommenden Karwoche werden uns neben Jesus Menschen in extremen Konflikten vorgestellt: Pilatus, Judas und Petrus. In deren Nähe wird es uns mulmig; also nichts wie weg! Immer wieder ziehen Menschen es vor, aus den Spannungsfeldern enthüllender Selbstwahrnehmung auszuwandern in ein Leben voller Unverbindlichkeiten. Es ist wahrhaft nicht leicht, sich der eigenen Abgründigkeit (Pascal) zu stellen. Ahnen wir doch recht gut, wozu wir fähig sind, wenn es um die eigene Haut geht.
1. Pilatus: Er erfuhr nicht erst durch sein Gespräch mit Jesus, dass er nur eine Marionette war, obwohl er über Leben und Tod zu befinden hatte. Im durchgängig aufrührerischen Judäa war er froh um jeden Tag und jede Nacht, die halbwegs friedlich vorübergegangen waren.
Aus dem vom Evangelisten Johannes überlieferten Gespräch mit Jesus stammt auch seine Frage an ihn: »Was ist Wahrheit?«. Über die Tiefe und Ernsthaftigkeit dieser Frage aus dem Munde des Pilatus haben sich schon viele den Kopf zerbrochen. Und das ist gut so, und so sollte es auch bleiben.
Der Posten des Pilatus in Jerusalem war ein Schleudersitz. Als im stockenden Prozessverlauf ein Vertreter aus dem Hohen Rat einwirft, er werde diesen Vorfall dem Kaiser als seiner höheren Instanz anzeigen, entledigt sich Pilatus der »Sache Jesus« durch das von den Anklägern erwünschte Todesurteil. Pilatus erweist sich aus seiner momentanen Klemme heraus als der professionelle Taktiker. Er wird sich die nächste Gelegenheit zu einer seiner Schikanen gegenüber diesen ihm widerwärtigen Juden nicht entgehen lassen. Genügt bei uns selber nicht manchmal nur eine zornige Anwandlung, um einen Menschen gedanklich »in die Wüste zu schicken«, gleichgültig ob er dort zu Tode kommt oder nicht?
2. Judas: Im Rückblick schildern die Evangelisten ihn als einen durch Geld verführbaren, unzuverlässigen Tropf. Sein Selbstmord wirft aber noch ein ganz anderes Licht auf ihn. Da er sich in seinen Erwartungen gegenüber Jesus zunehmend enttäuscht sah, er an der Seite Jesu ja nicht leiden, sondern triumphieren wollte, deshalb - so lauten ernsthafte Einwände - habe er Jesus zu guter Letzt provoziert: Im fingierten Verrat werde er Jesus nun gegenüber den verhassten Römern aus der Reserve locken, um dann an seiner Seite auf diese verhaßten Besatzer dreinzuschlagen.
Als sich seine fanatischen Ambitionen nicht erfüllten, stürzt er in eine tiefe Seelenfinsternis - mit dem bekannten, entsetzlichen Ende. Der Versuchung, die Person Jesu den eigenen Lebensentwürfen anzupassen, erliegen wir alle mehr oder weniger; auch als Christen. Da dies niemals gelingt, bietet sich als der elegantere Weg an, sich selber - nun umgekehrt - an beliebig austauschbare Idole anzuschmiegen.
3. Petrus: Er ist einer von den Menschen, mit denen man es nicht leicht hat. Er ist ein Choleriker: aufbrausend und im nächsten Moment sanft wie ein Lamm; zwischen Begeisterung und Enttäuschung, zwischen tiefem Groll und liebevoller Hingabe. Uber den oft gefährlichen Tiefen des Sees Genezareth kam Petrus als erfahrener Fischer mit den Gewalten der Elemente gut zurecht. Die in ihm selber schlummernden Gewalten zu bändigen, blieb die harte Heraustorderung seines restlichen Lebens.
»Keiner hat sich selber gemacht«, sagte mir einst nach leidvoller Zeit meine Schwester. So ist es. Die Tränen des Petrus nach der bitteren Erkenntnis über sich selber, über seinen Verrat, sollten auch uns zu Tränen rühren. Wie oberflächlich müssen wir denn geworden sein, um uns ständig mit der Schuld anderer selber zu entschulden?
Unzählbare Menschen durchschritten und durchschreiten die Todesnächte Jesu. Mit den in der Karwoche entfalteten Extremen läßt sich nicht leicht leben. Aber wahrscheinlich läßt es sich nur in ihrer Nähe wirklich leben. Die Flucht in die Banalität hilft nicht. Gerade unter ihrer Decke lauert neues Grauen.
Als Christen ahnen und wissen wir heute schon mehr als die vom Entsetzen erstarrten Frauen und Männer aus dem Freundeskreis Jesu unter seinem Kreuz. Wir dürfen vorweg schon getröstet sein, in das Grab Jesu nicht nur hinein, sondern hindurch zu schauen.
Dieses Leben hier ist nicht das einzige; es braucht sich auf dem Weg zu endgültiger Erlösung auch nicht durch unzählbare Wiedergeburten erneuern. Unsere Erdenzeit ist die freud- und leidvolle, momentane Repräsentation einer unergründlich göttlichen Glückseligkeit.

Artikel vom 19.03.2005