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Anton und die Narbe im Kopf

Autorin Elisabeth Zöller liest in der Realschule vor 90 Schülern

Harsewinkel (jaf). Lehrer Heimann hat Anton immer auf dem Kieker. Es gibt Strafarbeiten, wenn Anton zuckt. Er schlägt, wenn Anton schweigt. Und der Pädagoge lacht ihn aus, sobald Anton stottert. Heimann spottet, wenn der Schüler rechnet. Kurzum: Anton hat einen schweren Stand in seiner Klasse. Denn: Anton ist behindert und wir schreiben das Jahr 1939 - die Zeit des unwerten Lebens.

Viel über Anton erfuhren über 90 Schüler des zehnten Jahrgangs der Realschule in der vergangenen Woche. Die Autorin des Buches »Anton oder die Zeit des unwerten Lebens«, Elisabeth Zöller, war zu Gast in der Schule, um den Eleven mehr von dieser Zeit und Anton zu erzählen. Von dem Schüler, der im Dritten Reich nichts in der Schule zu suchen hat, der eigentlich kein Recht hat, zu leben ...
Die Schüler lauschten gebannt, als Zöller aus ihrem im Jahre 2004 erschienen Jugendbuch vorlas. Stand Euthanasie doch auch just auf ihrem Stundenplan im Geschichtsunterricht. »Daher passt die Buchvorstellung jetzt sehr gut ins Thema«, freute sich Lehrerin Gunhild Rübesamen über den Besuch der Autorin, die selbst 20 Jahre lang als Lehrerin tätig war.
Nachdem sie sich selbst vorgestellt hatte, erzählte sie von Anton, der bis zu seinem dritten Lebensjahr ganz normal entwickelt war. Dann aber wurde der Knabe von einer Straßenbahn erfasst. Seitdem war nichts mehr wie es vorher war. Anton blutete am Kopf, die Narbe blieb und auch die »Narbe« im Kopf verschwand nicht. Der Junge war nicht mehr er selbst, er konnte nicht mehr »ich« sagen und fragte seiner Umgebung Löcher in den Bauch: »Warum ist der Himmel oben? Warum sind die Füße unten?« Seine Geschwister nervte das, seine Mutter nicht: »Wer viel fragt, lebt. Wer nicht mehr fragt, ist tot.«
An seinem ersten Schultag wird er gleich gehänselt: Bekloppt, bekloppt, Du gehörst gestoppt«. Keine Frage, der leicht behinderte Schüler wurde gleich an die Seite gedrängt. Anton war allein und isoliert. Dann die Reichskristallnacht. »Ist Jude sein so schlimm?«, wollte Anton wissen. »Schlimmer«, antwortete sein Bruder Bernhard. »Was haben die getan?«, fragte Anton weiter. Darauf sagte Bernhard: »Es gibt Zeiten, da dürfen Menschen nicht fragen.« Anton zeigte sich tieftraurig: »Aber dann sind die Menschen doch tot«.
Diese Geschichte ging den Realschülern unter die Haut, in der schuleigenen Bücherei war es plötzlich mucksmäuschenstill. Und auch der Brückenschlag zur Gegenwart, den Elisabeth Zöller vollzog, interessierte sie brennend: »Grundlage dafür, dass jemand Nazi wird, ist, dass seine eigenen Gefühle gefrostet sind. In solch eine Ideologie geraten nur Menschen, die enttäuscht wurden. Sie brauchen einen Feind«, erläuterte die Autorin, die bereits 50 Kinder- und Jugendbücher geschrieben hat - zehn davon zum Thema Gewalt.
Damit auch die hiesigen Realschüler weiterfragen und Antworten auf all ihre Fragen bekommen, besucht Gunhild Rübesamen mit einer Klasse eine Euthanasie-Ausstellung in Münster, mit einer anderen Klasse fährt die Pädagogin am 9. März nach Bergen-Belsen.
Viele Fragen hatten übrigens auch die Grundschulkinder, für die Elisabeth Zöller nachmittags vorlas - und zwar aus dem Buch »Chaosfamilie König«, ein fröhliches Buch über eine Familie mit fünf Kindern, einer Haushälterin und einem Meerschweinchen.

Artikel vom 01.03.2005