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Als der Lehrer Hedinger noch den Ton angab

MGV Versmold: Schätze lagern jetzt im Stadtarchiv

Von Stefanie Hennigs
Versmold (WB). »1-2-2-2-7«, steht in dem kleinen, schwarzen Büchlein mit den vergilbten Seiten. Über den handgeschriebenen Zahlen Häkchen, Punkte und Striche. Ein Geheimcode? Von wegen: Nach diesen Zahlen erhoben vor 140 Jahren die Männer des »Bürger-Gesang-Vereins Versmold« ihre Stimme. Den »Geheimcode« entschlüsseln kann Stadtarchivar Dr. Richard Sautmann nicht. Aber dafür kann er einiges zu der Zeit der Urgroßväter der heutigen Sänger sagen, die nach diesen Zahlen gesungen haben.

Seit vergangenem Jahr ruhen die Schätze aus der Historie des Männergesangvereins - vormals »Bürger-Gesang-Verein« - im Stadtarchiv: Jubiläums- und Kassenunterlagen, Presseberichte, Fotos, Schriftwechsel - und natürlich auch viele alte Lieder- und Notenbücher in Sütterlin oder Frakturschrift. Das älteste Sängerbuch stammt aus dem Jahr 1864 - handgeschrieben im Jahr eins nach der Gründung des Gesangvereins. »So alt der Versmolder Gesangverein auch ist -Êder Gesangverein Loxten zählt noch ein paar Jahre mehr«, berichtet Richard Sautmann. Lehrer Friedrich Hedinger konnte im Jahre 1860 Sänger in Loxten um sich scharen. »Sogleich fanden sich auch die ersten Versmolder ein, um im Loxtener Chor mitzusingen. 1863 überlegten sie sich dann, in Versmold einen eigenen Gesangverein zu gründen.«
Doch warum finden sich in dem ältesten Büchlein, das laut Eintrag dem zweiten Tenor H. Seelhorst gehörte, nur handgeschriebene Texte, Ziffern und Zeichen, aber keine Noten? »Nur die wenigsten konnten damals Noten lesen. Der Musikunterricht an der Versmolder Volksschule in der Berliner Straße steckte noch in den Kinderschuhen. Statt Noten lernten die Kinder noch nach Zahlen zu singen.« Das bedeutete für den Lehrer, dass er als Dirigent sämtliche Lieder aus den Notenausgaben für die Sangesbrüder »übersetzen« und mit der Hand in Zahlen umschreiben musste. Eine echte Fleißarbeit angesichts der großen Sängerschar. Erst im Kaiserreich wurden die Kinder in Noten unterrichtet.
Vor allem dem Volkslied fühlten sich die Sänger verbunden, aber das Repertoire war wesentlich breiter gefächert: Mit Totenliedern -Êsogar in einem extra Büchlein »Christliche, trostreiche Grabgesänge« zusammengestellt - konnten sich die Sänger etwas für die Vereinskasse verdienen. Geistliche Lieder übten die Sänger ebenso ein wie Lieder, in denen sie die deutsche Einigung forderten - in Stücken wie »Was ist das deutsche Vaterland« bezogen sie klar politisch Stellung. »Im Verein kamen nicht Untertanen, die nur Befehlen folgten, sondern mündige Bürger zusammen, die ihre Umgebung aktiv gestalten wollten«, bringt der Stadtarchivar Licht in den historischen Hintergrund. Die Bürger, die in die Vereine eintraten, seien die selben Bürger gewesen, die sich für den Ausbau des Straßennetzes, den Bahnhof, die Elektrifizierung und ein eigenes Krankenhaus einsetzten. »Die Vereine hatten gesellschaftsgestaltende Bedeutung.«
Der MGV Versmold weiß seine Schätze, die zuvor bei Sänger Wilhelm Keminer lagerten, gut im Archiv aufgehoben. »Zwei Bücher sind dabei«, weiß Schriftführer Günter Hoffmann, »die den Großvätern und Urgroßvätern von heutigen Mitglieder gehört haben.«

Artikel vom 03.02.2005