27.01.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Vlothoerin überlebte das KZ Auschwitz

Das Schicksal der Margarethe Bräutigam: Eine jüdische Frau, die keine Jüdin mehr sein wollte

Vlotho (VZ). Das Konzentrationslager Auschwitz ist weltweit ein Symbol für die Schreckensherrschaft der Nazis. Mehr als eine Million Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 in dem KZ ermordet. Zum Jahrestag der Befreiung - heute vor 60 Jahren - hat Manfred Kluge, Vorsitzender der Mendel-Grundmann-Gesellschaft Vlotho, das Schicksal einer Vlothoerin recherchiert, die Auschwitz überlebte.
Als am 27. Januar 1945 Truppen der 60. Sowjetarmee das Hauptlager von Auschwitz-Birkenau befreien, sind etwa noch 7000 Häftlinge im Lager. Etwa 400 Häftlinge befinden sich zu der Zeit noch in den Außenlagern, wo sie ebenfalls um den 27. Januar befreit werden. Unter den Befreiten ist auch eine Vlothoerin: Margarethe Bräutigam.
Das Schicksal der Margarethe Bräutigam aus Vlotho ist in vieler Weise ein besonderes. Obwohl Margarethe Bräutigam vom jüdischen Glauben zum Katholizismus konvertiert war, wurde sie von den Nationalsozialisten auf Grund der Rassenideologie wieder zu einer Jüdin gemacht und auch als solche behandelt.
Margarethe Bräutigam wurde als Kind der jüdischen Eheleute Robert Schürmann und Henriette Schürmann (geborene Katz) am 15. September 1893 in Oeynhausen geboren. Die Familie Schürmann wohnte in Oeynhausen. Der Vater starb schon früh, mit 50 Jahren. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Vlotho beigesetzt. Die Mutter starb 1932 in Gelsenkirchen.
Margarethe Bräutigam war verheiratet mit Johann Bräutigam aus Auw, Kreis Prym. Johann Bräutigam stammte aus einer katholischen Familie. Die Entscheidung, einen nichtjüdischen Ehepartner zu wählen, wurde von der Familie Schürmann missbilligt. Dies führte dazu, dass die Mutter die Tochter enterbte. Am 24. August 1923 wurde ihr Sohn Günter (Joseph Günter) geboren. Obwohl Margarethe Bräutigam schon bald von ihrem (katholischen) Ehemann geschieden wurde, trat sie formell 1934 zum katholischen Glauben über. Ihr Sohn bezeichnete sie später als eine fromme Katholikin.
Nach Vlotho kamen Margarethe Bräutigam und Sohn Günter im Jahre 1926. Sie bezogen eine Mietwohnung in der Herforder Straße 27. Günter ging hier zur katholischen Volksschule. Nach Beendigung der Schulzeit begann er 1938 eine Lehre als Elektriker in Neheim-Hüsten.
Margarethe Bräutigam war Vertreterin und daher viel unterwegs, so auch am 10. November 1938, als in Vlotho SA-Leute schwere Gewalttaten verübten. Nach der Zerstörung der Synagoge und der Demolierung des Geschäftshauses Loeb drang der Zerstörungstrupp auch in jüdische Privathäuser und jüdische Wohnungen ein.
Darüber schreibt der Sohn, der sich nach dem Krieg Joe G. Brody nannte, in einem Brief an die Mendel-Grundmann-Gesellschaft vom 29. Mai 1995: »Meine Mutter befand sich zu diesem Zeitpunkt auf Reisen. Sie hatte eine Vertretung für eine Firma in Sachsen und war eine tüchtige und fleißige Frau. Die alte Frau B. als Hausbesitzerin musste die Horden ins Haus lassen... Sie verwüsteten auch unsere Wohnung, obwohl sich Frau B. dagegen auflehnte.«
Als Margarethe Bräutigam zurückkam, fand sie ihre Wohnung völlig verwüstet vor: Das Bettzeug war aufgeschlitzt, Geschirr zerschlagen und die Wohnungseinrichtung demoliert. Um dem Naziterror in der Kleinstadt zu entgehen, zog Margarethe Bräutigam im Dezember 1938 zu ihrem Sohn nach Neheim/Ruhr. Im Frühjahr 1942 drohte ihr die Deportation nach Theresienstadt. Es gelangt ihr, für einige Zeit bei Bekannten unterzutauchen. Schließlich wurde sie doch aufgegriffen und deportiert. Ihr Leidensweg ging über Theresienstadt nach Auschwitz.
Was Margarethe Bräutigam in Auschwitz durchleben und durchleiden musste, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, welchen Zufällen sie es zu verdanken hat, dass sie das Todeslager überleben konnte.
Nach der Befreiung lebte Margarethe Bräutigam kurzfristig in Meschede im Sauerland. Wie ihr Sonderausweis für politisch, rassisch und religiös Verfolgte zeigt, wohnte sie aber im Juni 1948 wieder in Vlotho, jetzt in der Winterbergstraße 27.
Somit gehört Margarethe Bräutigam zusammen mit Henny und Marianne Silberberg zu den wenigen Überlebenden des Holocaust, die nach Vlotho zurückgekehrt sind. Aber ebenso wie Mutter und Tochter Silberberg kann Margarethe Bräutigam nicht mehr in Vlotho leben. Die Überlebenden des Holocaust trafen hier auf eine eisige Wand des Schweigens und Wegdrückens, und all ihre jüdischen Nachbarn und Freunde gab es nicht mehr. Sie waren weggezogen, ausgewandert - die meisten umgekommen. Die Synagoge war zerstört, die Gemeinde ausgelöscht. So fühlten sie sich in ihrer eigenen Heimatstadt einsam und isoliert.
Daher wanderte Margarethe Bräutigam mit ihrem Sohn 1952 in die USA aus. Bei ihrem Abschied aus Vlotho soll sie - in Anspielung auf die Nazizeit - den sarkastischen Satz gesagt haben: »Jetzt ist Vlotho wieder judenrein!«
Margarethe Bräutigam lebte nur einige Jahre in New York. l957 kehrte sie wieder zurück nach Deutschland. Am 8. September 1963 endete ihr unruhiges Leben in ihrer Geburtsstadt - in Bad Oeynhausen. Dort wurde sie auch beigesetzt.

Artikel vom 27.01.2005