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GEDANKEN ZUM SONNTAG

Von Pfarrerin Karin Brunken


»Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.“ Von Astrid Lindgren stammt dieser Spruch. Zu schön, um wahr zu sein!?
Für viele ist das gerade heute das Lebensthema schlechthin:
Wie gehe ich mit meiner Zeit um? Habe ich Zeit? Und wofür nehme ich mir Zeit?
Ohne Uhr kommen wir nicht aus. Keiner von uns kann im Grunde wirklich ohne Uhr leben. Die Uhrzeit bestimmt unser Leben. Zunächst einmal nicht nur zu unserem Nachteil. Uhren helfen uns, füreinander verlässlich zu bleiben. Die Uhrzeit schützt uns auch. Sie ermöglicht es uns, sich mit anderen Menschen zu vereinbaren. Sie macht unsere Arbeitszeit und unsere Freizeit planbar.
Die Uhrzeit regiert aber auch über uns. Das ist das andere. Mit minutiöser Planung stopfen wir, Termin an Termin gereiht, unseren Kalender voll. Die Minuten gängeln uns, nehmen uns die Luft.
Die Zeit, die eigentlich da ist, um den Tag durchzustrukturieren, wird zum Taktgeber. Längst haben die Minuten und Stunden das Sagen, nicht mehr die Tage und Monate.
Aber der schnelle Stunden- und Minutentakt ist noch nicht das Ende. Längst machen wir nicht nur vieles hintereinander.
Wir machen vieles zur gleichen Zeit. Machen uns irgendwo im Haus zu schaffen, haben dabei das schnurlose Telefon am Ohr und werfen dazwischen immer wieder einen Blick auf den ohne Ton laufenden Fernseher. Wir sind dank elektronischer Vernetzung an mehreren Orten gleichzeitig.
Der Mensch, so scheint es, hat die Zeit besiegt. Was man einst für eine Eigenschaft Gottes hielt - die Allgegenwart; die Möglichkeit, an allen Orten zur gleichen Zeit zu sein - dem scheinen auch wir Menschen uns zunehmend anzunähern. Alles hat seine Zeit. - So lautet ein biblisches Motto. Alles hat seine Zeit. Auch die Niederlage. Auch der Misserfolg. Auch Krankheit. Aber eben auch die Muße und das Nichtstun. Das Spiel und lange Spaziergänge.
Meine Zeit steht in Gottes Händen - diese Erkenntnis bildet so etwas wie den ordnenden Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens können wir unsere Zeiterfahrungen machen. Dass unsere Zeit in Gottes Händen steht, das ist nicht nur eine alte Erkenntnis aus Psalm 31. Dieses Wissen ist auch eine Möglichkeit die vielfältigen und einander oft widerstrebenden Erfahrungen auszuhalten, unter einen Hut zu bringen, ohne dabei den langen Atem zu verlieren. Dass unsere Zeit in Gottes Händen steht, das ist der Grund dafür, dass uns immer noch Zeit verbleibt.
»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ - sagen wir. Gott sagt: Deine Zeit steht in meinen Händen. Vielleicht ist es am Ende gar nicht so, dass uns das Leben bestraft, wenn wir zu spät kommen.
Vielleicht bestraft es uns manchmal nur, weil wir uns keine Zeit zum Leben mehr nehmen. Weil wir mit dem hohen Lebenstakt nicht mehr Schritt halten können.

Artikel vom 22.01.2005