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»Die gesellschaftliche Umstrukturierung und die Wirtschaftslage unterstützen klar die patriarchalischen Strukturen. Das merkt man ganz deutlich. Zwischen den Zeilen einiger Wahlprogramme der Parteien lesen Sie ganz deutlich: Frauen zurück an den Herd«, sagt Anja Martin. Die 37-Jährige hat ein Jura-Studium mit erstem Staatsexamen abgeschlossen und ist Diplom-Archivarin. Seit 1999 arbeitet sie in der Stadtverwaltung - jetzt mit einer halben Stelle für die Gleichstellung von Mann und Frau, mit 40 Prozent ihrer Arbeitskraft fürs Stadtmarketing und zehn Prozent fürs Stadtarchiv. »Es wäre locker ein Vollzeitjob, um befriedigend für die Gleichstellung zu arbeiten«, sagt Anja Martin. Gleichstellung sei absolut spannend. »Ich stoße an viele Grenzen und laufe vor viele Wände. Aber die Aufgabe gibt mir persönlich unheimlich viel.«
In ihrer internen Funktion wird Anja Martin bei Personalentscheidungen, Stellenbesetzungen und -bewertungen hinzu gezogen und berät Kollegen - Männer wie Frauen - in allen die Gleichstellung betreffenden Belangen. Die Gleichstellungsbeauftragte wirkt aber vor allem auch nach außen. Sie organisiert Selbstbehauptungskurse für Jungen und Mädchen in Zusammenarbeit mit den Schulen, berät zum Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Kooperation mit der Agentur für Arbeit und der Volkshochschule. Die Arbeit mit Frauen kann auch sehr intensiv sein: Mit der Volkshochschule (»ein absolut wichtiger Partner für meine Arbeit«) sind jüngst acht Frauen 18 Stunden lang mit einer Kommunikationstrainerin auf »kreative Jobsuche« gegangen. Die Frauen, die nach der Familienphase teils aus finanziellen, teils aus persönlichen Gründen zurück in den Beruf streben, stammen aus allen Schichten. »Die Rückkehr in den Beruf ist in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden. Auf dem Arbeitsmarkt sind die Stellen einfach nicht da. Mit Hartz IV fallen Berufsrückkehrerinnen hinten rüber«, sagt Anja Martin. Fördermaßnahmen seien restriktiv gestrichen worden. Mit der Beratung in diese Richtung hält sich die Gleichstellungsbeauftragte allerdings zurzeit zurück. »Wir bekommen jeden Tag eine andere Information von der Agentur für Arbeit. Eine Fehlberatung wäre fatal - das kann nur böse ausgehen.« Da die Gleichstellungsbeauftragte eine Lotsenfuktion hat, ist diese Situation unbefriedigend. »Die Frauen wollen sofort Antworten.« Anja Martin vermutet, dass sich alles, was sich um Hartz IV dreht, in sechs Monaten eingespielt hat.
Auf einem ganz schmalen Grad bewegt sich Anja Martin, wenn Frauen sie als erste Anlaufstelle sehen, wenn sie sich in Scheidung befinden. »Ich darf keine Rechtsberatung vornehmen. Ich kann die Frauen nur weiter verweisen.«
Mehrere Päckchen Taschentücher muss Anja Martin immer in ihrem Schreibtisch haben. Frauen kommen zu ihr, die sich bei ihr ausweinen, die einfach nur etwas loswerden wollen - vor allem nach Gewalterfahrungen in der Beziehung. »Das muss ich mit Gleichstellungs-Kolleginnen anonymisiert besprechen, um das überhaupt verarbeiten zu können.« Viele wissen auch bei Mobbing oder sexueller Belästigung am Arbeitsplatz nicht ein und aus. Auch das Thema sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist ein heißes Eisen. »Die Ratsuchenden verweise ich sofort an die Selbsthilfegruppe Wendepunkt. Auf Kreisebene haben die Gleichstellungsstellen außerdem einen Arbeitskreis angestoßen, in dem Beratungsstellen, Kindergärten, Polizei und andere zusammenarbeiten. Missbrauch ist auch in Schloß Holte-Stukenbrock ein Thema. Wir sind keine Insel der Glückseligen.«
Ein großes Thema sei die Kinderbetreuung - davon hänge ab, ob Frauen nach der Elternzeit zurück in den Beruf können. Mit dem Partner VHS werden Tagesmütter qualifiziert. »In der Betreuung von Kindern im Alter unter drei Jahren muss etwas passieren«, sagt Anja Martin. »Frauen werden abgestempelt, wenn sie für sich in Anspruch nehmen, ihre eigene Persönlichkeit nicht zu negieren«, drückt sich Anja Martin vorsichtig aus. In der Zeitung der Gleichstellungsbeauftragten im Kreis, PIA, heißt der Aufmacher: »Rabenmütter gibt es nur in Deutschland«. In anderen Staaten sei es normal, dass Frauen mit Kindern berufstätig sind. Die Familienpolitik stehe in der Verantwortung.
»Frauen müssen den Mund aufmachen, auch wenn sie anecken«, sagt Anja Martin. Sie pflegt Kontakte zu den Frauengruppen der Parteien und hat den Treff »Wir Frauen - offener Frauentreff« übernommen, der sich mit bis zu 30 Frauen ein Mal im Monat trifft. Die Themen, die sich die Frauen selbst stellen, werden moderiert. An die Agentur für Arbeit herangetragen haben die Gleichstellungsbeauftragten die Idee der Lehrgänge, in denen Mütter im Alter unter 25 Jahren ohne Ausbildung qualifiziert werden. »Das ist eine unglaubliche Chance. Manche begreifen das, manche nicht.« Bei allen Orientierungsmaßnahmen sei das A und O für eine Frau, die zurück in den Beruf wolle, dass sie die Kinderbetreuung selbst organisiert bekommt.
Veranstaltungen zum Thema Frau und Beruf oder Frau und Rente kommen gut an. »Das Thema Schulden kann man hier nicht anbieten. Die Frauen haben Angst, dass jemand im Ort davon erfährt.« Sie würden in andere Orte, die anonymer seien, verwiesen. Beliebt seien Kabarettveranstaltungen mit Problemen, die Frauen an sich selbst erkennen. »Am nächsten Tag steht das Telefon bei mir nicht mehr still.«

Artikel vom 22.01.2005