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»Kinder haben ganzen Tag gewartet«

30 000 Weihnachtspäckchen in Schulen, Heimen und Kindergärten verteilt - 1. Fortsetzung

Von Stefan Nölke
Versmold (WB). Vier Versmolder beteiligten sich dieses Jahr am Weihnachtskonvoi der Rudolf-Walther-Stiftung und des Round Table Deutschland. Sie brachten Geschenke in das Land, das 2007 einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU stellen will - und in dem sie sehnsüchtig von 30 000 Kindern erwartet wurden. Mit einem Konvoi aus 13 Lastwagen wurden die gesammelten Weihnachtspäckchen bis in die Walachei gefahren und an die Kinder in Schulen, Heimen und Krankenhäusern verteilt. Über den Hilfskonvoi berichtet der VERSMOLDER ANZEIGER in einer vierteiligen Serie.

»Wir sind im Kinderdorf der Rudolf-Walther-Stiftung in Temesvár. Bislang konnten wir noch keine Weihnachtspäckchen verteilen. Der Zoll muss die Wagen öffnen, sonst können wir nicht an die Päckchen ran. 30 000 davon müssen einzeln verteilt werden. Es ist Mittwoch - und am Freitag wollen wir zurück, aber der Zoll lässt sich nicht blicken. Man zeigt uns die Werkstätten. Die Kinder haben Schule, während wir warten. Im Kindergarten ein Massenauflauf, der die Kleinen verschreckt. Blitzlichter. Sie singen eine für uns einstudierte Melodie. Die Presse ist schon weg, als Ralf Göllner aus Beverungen ihnen ein deutsches Weihnachtslied vorträgt. Die Presse sieht nicht, wie plötzlich die Kleinen zu lachen beginnen und strahlen. Wenigstens haben wir ein paar Kinder gesehen.
Wir warten bis 15 Uhr, dann kommt der Zoll. Das geht jetzt sehr schnell. Die Gruppe Ostwestfalen soll nach Lugoj fahren, 50 Kilometer von Temesvár entfernt. Gerd Welchen aus Bremen fährt den Bus. Er will so schnell weg, dass Ramona mit den Papieren kaum nachkommt. Ramona arbeitet im Kinderdorf und dolmetscht für uns die kommenden Tage. Gerd kennt sich hier aus. Er kennt die Schlaglöcher und die offenen Gullideckel und die Fahrradfahrer ohne Licht. Es ist stockdunkel, als wir an einem Waisenheim ankommen. Es ist das Heim, das wir alle im Fernsehen und in der Zeitung gesehen haben. Das, wo die Kinder gefesselt waren.
Die Kinder haben den ganzen Tag gewartet und stehen halb verrückt vor Freude die ganze Treppe hinauf in Reih und Glied. Die anderen tragen die Päckchen herein, während ich mich mit dem Fotoapparat weiter vor wage. Zwei Pflegerinnen nehmen mich an die Hand und zeigen mir die Zimmer, ohne dass ich sie gefragt hätte. Die Kinder sind geistig zurückgeblieben, aber es sind noch nicht die ganz schweren Fälle. Die kommen später. Die Zimmer sind übertrieben ordentlich, aber vielleicht vermute ich das nur. Zwei Jungen zeigen mir ihre Gitarre, die nur drei Seiten hat. Einer von ihnen spricht erstaunlich gut Englisch. Wir wissen, dass in den meisten Betten zwei Kinder schlafen.
Dann kommen die schweren Fälle in einem getrennten Haus. Wir verteilen jedes Päckchen an ein Kind. Ob man den Pflegerinnen auch eines geben soll? Die haben auch Kinder. Es gibt mehrere Räume wie in einer Schule. Es ist schon spät, aber die Kinder sitzen dort an Tischen und warten. Einer hat die Hände auf dem Rücken gefesselt und kommt nicht an das Päckchen heran, das vor ihm auf dem Tisch steht. Also doch! Er kann sich kaum bändigen, wartet aber, dass man ihn befreit. Ganz sanft macht die Pflegerin das. Oft geübt. Ramona übersetzt. Der Junge haut sich mit den Fäusten auf die Augen, wenn man ihn lässt. Jeder von uns hat mindestens eine digitale Kamera dabei.
Später ein Heim, in dem die Mädchen älter sind. Backfischalter. Sie drehen sich weg von unseren Päckchen. »Hier stimmt was nicht«, vermutet einer von uns. Wir bestehen darauf, dass die Päckchen vor unseren Augen geöffnet werden, damit nicht hinterrücks die Pflegerinnen davon profitieren. Wir müssten das verstehen, übersetzt Ramona wieder. Den Mädchen sei es peinlich, mitten in der Nacht von fremden Männern Almosen anzunehmen. Wir sind in ihr Wohnzimmer eingedrungen.«Wird fortgesetzt

Artikel vom 27.12.2004