18.12.2004 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Gedanken zu Weihnachten

Von Jutta Hoppe


Bei der Vorbereitung »Gedanken zu Weihnachten« habe ich einen interessanten Briefwechsel eines kleinen Mädchens mit dem Chefredakteur einer Zeitung aus dem Jahre 1897 gefunden. Dieser Briefwechsel wurde über ein halbes Jahrhundert in der »Sun« - bis zu ihrer Einstellung 1950 - alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit auf der Titelseite abgedruckt. Ich meine, dass dieser Brief auch heute noch nachdenkenswert ist.
Gibt es ein Christkind?
Die achtjährige Virginia O'Hanlon aus New York wollte es genau wissen. Darum schrieb sie an die Tageszeitung »Sun« einen Brief: Ich bin acht Jahre alt. Einige von meinen Freunden sagen, es gibt kein Christkind. Papa sagt, was in der »Sun« steht, ist immer wahr. Bitte sagen Sie mir, gibt es ein Christkind?
Die Sache war dem Chefredakteur Franzis P. Church so wichtig, dass er selber antwortete auf der Titelseite der »Sun«: Virginia, deine kleinen Freunde haben nicht Recht. Sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein; ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganz Wahrheit zu erfassen, zu begreifen.
Ja, Virginia, es gibt ein Christkind. Es gibt es so gewiss wie Liebe und Großherzigkeit und Treue. Weil es all das gibt, kann unser Leben schön und heiter sein. Wie dunkel wäre die Welt, wenn es kein Christkind gäbe. Es gäbe dann auch keine Virginia, keinen Glauben, keine Poesie - gar nichts, was das Leben erst erträglich macht...
Es gibt ein Christkind. Sonst könntest du auch den Märchen nicht glauben. Gewiss, du könntest deinen Papa bitten, er sollte am Heiligen Abend Leute ausschicken, das Christkind zu fangen. Und keiner von ihnen bekäme das Christkind zu Gesicht. Was würde das beweisen? Kein Mensch sieht es einfach so. Das beweist gar nichts. Die wichtigsten Dinge bleiben meist unsichtbar. Trotzdem gibt es sie. Alle Wunder zu denken - geschweige denn, sie zu sehen, das vermag nicht der Klügste auf der Welt. Was du auch siehst, du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter. Warum? Weil es einen Schleier gibt, den nicht einmal Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann wird die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein. »Ist das denn auch wahr?«, kannst du fragen. Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer und nichts beständiger.
Das Christkind lebt, und ewig wird es leben. Sogar in zehnmal zehntausend Jahren wird es da sein, um Kinder wie dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen.

Artikel vom 18.12.2004